Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
»Wenn man den alten Frauen am Rialto zuhört, erfährt man nur, wieviel schöner früher alles war, wieviel besser sie gelebt haben, auch wenn sie weniger hatten.«
»Vielleicht liegt es aber auch nur daran, daß die meisten Journalisten noch so jung sind und sich wirklich nicht erinnern können, wie es früher war.«
Sie nickte »Sicher haben jedenfalls wir kein historisches Gedächtnis, wir, damit meine ich uns als Gesellschaft.
Vorige Woche habe ich mir Chiaras Geschichtsbuch angesehen, und das hat mir richig angst gemacht. In den Kapiteln über dieses Jahrhundert wird über den zweiten Weltkrieg so hinweggehuscht. Mussolini tritt in den Zwanzigern nur kurz als Statist auf, dann wird er von den bösen Deutschen verführt, und auf einmal ist alles überstanden und Rom wieder frei. Aber erst, nachdem unsere tapferen Steikräfte wie die Löwen kämpften und heldenhaft gestorben sind.«
»Wir haben darüber in der Schule gar nichts gelernt, jedenfalls nicht, daß ich wüßte«, sagte Brunetti, wobei er sich noch ein halbes Glas Wein einschenkte.
»Nun ja«, meinte Paola, nachdem auch sie ein Schlückchen getrunken hatte, »als wir zu Schule gingen, war die Rechte an der Macht, und die wünschte sich bestimmt keine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Und nachdem sie dann ihr Bündnis mit der Linken geschlossen hatte, wäre es unbequem gewesen, über den Kommunismus zu reden.« Noch ein Schluck. »Und da wir während des Krieges die Seiten gewechselt hatten, müssen sie wahrscheinlich gut aufpassen, wen sie als die Bösen und wen als die Guten hinstellen.«
»Wer sind sie?« fragte Brunetti.
»Die Verfasser der Geschichtsbücher. Oder eigentlich die Politiker, die bestimmen, wer die Geschichtsbücher schreiben darf, ich meine die für die Schulen.«
»Und wo bleibt die schlichte historische Wahrheit?« fragte Brunetti.
»Du liest doch die meiste Zeit historische Bücher, Guido. Eigentlich müßte dir das zur Genüge zeigen, daß es so etwas nicht gibt.«
Er brauchte nur an die Unterschiede zwischen der katholischen und der protestantischen Geschichte des Papsttums zu denken, um zu sehen, wie recht sie hatte. Aber da ging es um Glauben, wo sowieso alle die Wahrheit verdrehen; dagegen sprachen sie hier von lebendiger Erinnerung: Die Leute lebten ja noch, die an den fraglichen Vorgängen teilgehabt hatten; die Väter fast aller seiner Freunde hatten im Krieg gekämpft.
»Vielleicht ist es schwerer, die Wahrheit auszumachen, wenn man sie aus eigenem Erleben kennt«, warf er ein. Und als er ihre Verwirrung sah, fuhr er fort: »Wenn man allein auf die Zeugnisse von Leuten angewiesen ist, die man nie gekannt hat, die Hunderte Jahre vor einem gelebt haben, dann kann man ehrlich sein, oder man ist zumindest eher ehrlich.«
»Wie zum Beispiel die Kirche mit der Inquisition?« erkundigte sie sich.
Er quittierte seine Niederlage mit einem Grinsen und fragte: »Wenn also nicht Gans, was gibt's zu essen?«
Großmütig im Sieg, antwortete sie: »Ich fand, wir sollten einmal wieder essen wie unsere Vorfahren.«
»Und das wäre?«
»Diese involtini, die du so liebst, mit prosciutto und Artischockenherzen dann.«
»Ich glaube kaum, daß irgendeiner meiner Vorfahren so etwas je gegessen hat«, gestand er.
»Dazu Polenta, zur Erhaltung der historischen Wahrheit.«
Beide Kinder waren zum Mittagessen da, aber sie waren sonderbar still, mit den Gedanken ganz bei den letzten Schulwochen und den Jahresabschlußprüfungen. Raffi, der im Herbst an die Universität gehen wollte, war in den letzten Monaten mehr oder weniger zu einem Phantom mutiert, das immer nur zu den Mahlzeiten aus seinem Zimmer kam oder um sich von seiner Mutter bei einer schwierigen Übersetzung aus dem Griechischen helfen zu lassen. Seine Romanze mit Sara Paganuzzi wurde anscheinend nur noch durch spätabendliche Anrufe oder gelegentliche frühabendliche Treffen auf dem Campo San Bortolo am Leben erhalten. Chiara, die mit jedem Monat, der ins Land ging, mehr von der ererbten Schönheit ihrer Mutter zeigte, war immer noch so eingenommen von den Geheimnissen der Mathematik und der Himmelsnavigation, daß sie von der Macht nichts ahnte, die ihr Aussehen ihr wohl einmal verleihen würde.
Als sie fertig gegessen hatten, ging Paola auf die Dachterrasse hinaus und nahm, um ihren Mann mit nach draußen zu locken, ihrer beider Kaffeetassen mit. Die Frühnachmittagssonne brannte so heiß, daß Brunetti seine Krawatte abnahm, bevor er ihr folgte - das
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