Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
ahnen konnten, wie geübt ihre Aufmerksamkeiten gewesen waren. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie, wenn sie ihre Witze hätte hören können, vielleicht mit darüber gelacht hätte, aber nun vermehrte das Bewußtsein, daß sie weit jenseits aller Möglichkeiten war, sein Bedauern zu spüren, nur noch seine Gewissensbisse.
Er kam erst spät nach Mitternacht heim, doch wie er gehofft hatte, war Paola noch wach und wartete auf ihn. Sie saß im Bett und las, klappte das Buch jedoch zu und legte es weg, nahm auch noch ihre Brille ab und fragte zuletzt: »Was war denn los?«
Brunetti hängte sein Jackett in den Kleiderschrank, band seine Krawatte ab und legte sie über eine Stuhllehne. »Signora Follini. Jemand hat sie aus der Lagune gefischt«, sagte er, während er sein Hemd aufzuknöpfen begann. Müder, als ihm selbst bewußt war, setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett und bückte sich, um seine Schuhe aufzuschnüren.
»Ich vermute, daß jemand sie ins Wasser geworfen und einfach hat ertrinken lassen.«
»Wegen der anderen Morde?« fragte sie.
»Muß wohl so sein.«
»Ist sie immer noch da draußen?« fragte Paola. Im ersten Moment dachte Brunetti, sie spreche von Luisa Follini, deren Leichnam jetzt in der kalten Gesellschaft anderer Toter im Ospedale Civile lag, aber dann verstand er, daß sie wohl Signorina Elettra meinte.
»Ich werde sie zurückrufen«, sagte er. Ehe Paola etwas dazu bemerken konnte, ging er ins Bad, wo er es sorgsam vermied, sich beim Zähneputzen im Spiegel anzusehen.
Einige Zeit später, als er neben ihr unter die Decke schlüpfte, nahm Paola den Faden an derselben Stelle wieder auf, an der sie ihn losgelassen hatten. »Wird sie auf dich hören?«
»Hören tut sie immer.«
»Genau wie Chiara«, sagte Paola, doch dabei ließ sie es bewenden.
Er drehte sich zu ihr um und legte den Arm um sie. Er fühlte noch, wie sie sich bewegte, dann ging das Licht im Zimmer aus. Sie veränderte kurz ihre Lage und schob ihren Arm unter seinem Hals durch, bis sein Kopf bequem in der Kuhle an ihrer Schulter ruhte. Da lag er nun in den Armen seiner Frau und dachte an eine andere, aber weil er sich sagen konnte, daß es ihm nur um deren Sicherheit zu tun war, unternahm er keinen Versuch, den Gedanken zu verdrängen.
Nach einer Weile, die so lang war, daß beide längst hätten eingeschlafen sein müssen, sagte Paola: »Du solltest das nicht hinnehmen.«
Er gab einen Ton von sich, und nach einer weiteren langen Weile schliefen sie beide.
Am nächsten Morgen rief Brunetti, noch ehe er die Wohnung verließ, im Leichenschauhaus an und fragte den Wärter, wer an der Frau, die letzte Nacht von Pellestrina hereingebracht worden war, die Autopsie vornehmen werde.
»Dottor Rizzardi.«
»Gut. Wann?«
Schweigen. Brunetti hörte, wie eine Seite umgeblättert wurde. »Da waren noch zwei Leute aus Castello. Wahrscheinlich an Abgasen aus ihrem Boiler gestorben. Aber ich kann die Frau vorziehen. Dann müßte er gegen elf fertig sein.«
»Danke«, sagte Brunetti. »Sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn anrufen werde.«
»Gut, Commissario«, sagte der Wärter und legte auf. Brunetti wollte unbedingt wissen, wann Signora Follini gestorben war, und das konnte ihm nur Rizzardi sagen. Irgendwann nach Mittwoch, sofern sich nicht jemand fand, der sie noch später gesehen haben wollte.
Und wo? Er holte seine Lagunenkarte und betrachtete das schmale Band namens Pellestrina. Am Südende, etwa drei Kilometer vom Dorf, war die Kanalmündung, in der sie gefunden worden war, kurz hinter dem Naturschutzgebiet Caroman. Er faltete die Karte wieder zusammen und steckte sie ein. Nur einer von den Bootsführern konnte ihm sagen, was er über Gezeiten und Strömungen wissen mußte, um sich ein Bild davon zu machen, wie und wohin etwas im Wasser treiben würde.
In der Questura ging er zuerst in den Bereitschaftsraum und traf dort Bonsuan, der sich gern freiwillig für die ruhigere Sonntagsschicht meldete. Der Bootsführer saß in dem merkwürdig leeren Raum, vor sich eine zerfledderte Gazzetta dello Sport, auf die er so uninteressiert starrte, als wäre es die leere Wand gegenüber. Brunetti breitete die Karte auf der Zeitung aus und erklärte Bonsuan, wo der Fischer Signora Follinis Leiche gefunden haben wollte, dann bat er den Bootsführer, ihm zu sagen, wie sie dorthin gekommen sein könnte.
Nachdem Bonsuan eine Weile die Karte betrachtet hatte, fragte er: »Wie schlimm war sie dran?«
Sie war doch tot, dachte Brunetti.
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