Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
die man über dem Wasser sah.
Vianello gab den beiden Männern, die hinter den am Boden knienden Arzt getreten waren, ein Zeichen. Venturi wollte sich erheben, rutschte aber mit dem rechten Fuß auf dem nassen Pflaster aus und konnte einen Sturz nur dadurch vermeiden, daß er sich mit beiden Händen abstützte. Rasch stand er auf und entfernte sich von der Leiche, wobei er achtgab, daß er mit den schmutzigen Händen seine Kleidung nicht berührte. Dann wandte er sich an einen der Foto-grafen und sagte: »Holen Sie mir mein Taschentuch.«
Der Fotograf, ein Mann in Brunettis Alter, war gerade damit beschäftigt, sein Stativ aufzubauen. Er zog eines der Beine aus, schraubte es fest, sah zu dem Arzt hinüber und sagte: »Ich hab's nicht hingeworfen.« Damit wandte er sich dem zweiten Stativbein zu.
Venturi öffnete schon den Mund, um den Mann abzukanzeln, besann sich dann aber und ging in Richtung Boot zurück; sein Taschentuch ließ er bei der Leiche liegen. Brunetti sah ihm nach, wie er mit seitlich abgestreckten Händen davonging, was sehr an einen Pinguin erinnerte. Das leere Boot tänzelte im Wasser, mindestens einen Meter vom Anleger entfernt, von den beiden Bootsführern war weit und breit nichts zu sehen. Statt das Boot nun einfach an seiner Leine näher heranzuziehen oder den Weitsprung von der Mole aufs Deck zu wagen, ging Venturi weiter und setzte sich auf eine hölzerne Parkbank. Brunetti bemerkte plötzlich den dichten Abendnebel, der heraufgezogen war, und war froh darum.
Er ging wieder zu Signora Follini und kniete neben ihr nieder. Die kurzzeitige Ablenkung durch die Feuchtigkeit, die in seine Hosenbeine zog, kam ihm gerade recht. Die Tote hatte einen tief ausgeschnittenen Angorapullover an, den das Wasser zu chaotischen Faltengebirgen aufgeschoben hatte. Brunetti war kein Pathologe, aber er kannte die Anzeichen eines gewaltsamen Todes, und hier sah er keine. Die Haut an ihrem Hals war unberührt, die Wolle ihres Pullovers ebenso. Mit den Fingern seiner rechten Hand hob er den Saum dieses Pullovers an und legte ihren Bauch bloß. Als er auch da nichts anderes sah als Altersfalten, wandte er den Blick ab und deckte sie wieder zu.
Die Leute von der Spurensicherung machten sich an ihre jeweilige Arbeit. Brunetti und Vianello warteten. Während sie so untätig dastanden, sah Brunetti den Mann mit der Decke wieder nahen. Er ging zu Vianello, deutete mit dem Kopf zu den Technikern hinüber und fragte: »Würden Sie die Decke über sie legen, wenn die hier fertig sind?«
Vianello versprach es und nahm dem Mann die Decke ab.
»Ich muß sie nicht wiederhaben, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern«, sagte der Mann, dann ging er fort von der Mole und verschwand in der Dunkelheit eines Gäßchens zwischen den Häusern. Die Zeit verstrich. Hin und wieder zerrissen Blitze aus der Kamera des Fotografen die Finsternis. Vianello wartete, bis die Leute von der Spurensicherung fertig waren und anfingen, ihre Gerätschaften einzupacken, dann ging er zu Signora Follini, breitete die Decke in der Luft aus und ließ sie so, daß Gesicht und Augen zugedeckt waren, langsam auf die Tote sinken.
»Rizzardi hätte uns etwas gesagt«, meinte er, als er zu Brunetti zurückkam.
»Rizzardi hätte auch sein Taschentuch selbst aufgehoben«, sagte Brunetti.
»Spielt es eine Rolle, daß wir bis nach der Obduktion nicht wissen, woran sie gestorben ist?« fragte Vianello.
Brunetti deutete zu den Häusern von Pellestrina, von denen die meisten jetzt völlig verdunkelt waren. »Glauben Sie, daß uns von denen einer helfen wird, selbst wenn wir es wissen?«
»Einige mochten sie doch anscheinend gern«, antwortete Vianello mit vorsichtigem Optimismus.
»Sie mochten auch Marco Bottin«, versetzte Brunetti.
Da Signorina Elettra und Pucetti im Dorf waren, fand Brunetti es besser, mit den notwendigen Befragungen bis zum nächsten Tag zu warten. Das würde den beiden Gelegenheit geben, sich zwanglos zwischen den Einwohnern zu bewegen und vielleicht Dinge zu hören, die vergessen oder verdrängt wären, bis die Polizei mit der förmlichen Untersuchung von Signora Follinis Tod begann.
Brunetti gab den Technikern ein Zeichen, worauf sie eine Trage entrollten. Die Decke verrutschte kaum, als sie Signora Follini hochhoben und zum Boot trugen.
Auf der Rückfahrt nach Venedig blieb Brunetti oben an Deck stehen und mußte daran denken, wie er und Vianello sich über Signora Follini lustig gemacht hatten, obwohl sie damals beide nicht
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