Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
Anrichte und nahm die runde Abdeckung von der Kuchenplatte, einem Erbstück von ihrer Großtante Ugolina in Parma. Zum Vorschein kam, was Brunetti kaum zu hoffen gewagt hatte: Paolas berühmter Apfelkuchen, der so mit Limonen- und Orangensaft und reichlich Grand Marnier durchtränkt war, daß der Gesamtgeschmack für alle Zeiten auf der Zunge verweilte.
»Eure Mutter ist eine Heilige«, sagte er zu den Kindern.
»Eine Heilige«, bestätigte Raffi.
»Eine Heilige«, echote Chiara, die sich ein zweites Stück erhoffte.
Nach dem Essen nahm Brunetti, um bei dem durch den Kuchen eingeführten Apfelmotiv zu bleiben, eine Flasche Calvados und ging damit auf die Terrasse. Dort stellte er die Flasche hin, dann ging er zurück in die Küche, um zwei Gläser und - wie er hoffte - seine Frau zu holen. Als er Chiara nahelegte, den Abwasch zu machen, erhob das Mädchen keine Einwände.
»Komm«, sagte er zu Paola und ging wieder hinaus auf die Terrasse.
Er goß zwei Gläser ein, setzte sich, legte die Füße aufs Geländer und schaute den Wolken nach, die in der Ferne dahintrieben. Als Paola sich in den anderen Liegestuhl sinken ließ, deutete er mit dem Kopf zu den Wolken und fragte: »Meinst du, es wird regnen?«
»Das will ich hoffen. Ich habe heute gelesen, daß es in den Bergen oberhalb Belluno schon Brände gibt.«
»Brandstiftung?« fragte er.
»Wahrscheinlich«, antwortete sie. »Wie wollen sie dort anders bauen?« Es war eine Besonderheit des Gesetzes, daß ein unerschlossenes Grundstück, auf dem das Bauen verboten war, diesen Schutz verlor, sobald die Bäume, die darauf standen, nicht mehr existierten. Und wie bekam man Bäume besser weg als durch ein Feuer?
Beide hatten keine Lust, dieses Thema zu vertiefen, weshalb Brunetti schließlich fragte: »Was ist denn los?«
Zu den Dingen, die Brunetti an Paola immer geliebt hatte, gehörte ihr »maskuliner« Verstand, wie er es beharrlich ausdrückte, mochte sie gegen das Wort protestieren, soviel sie wollte. So hielt sie es auch jetzt nicht für nötig, Verwirrung vorzuschützen, und sagte statt dessen freiheraus: »Ich finde dein Interesse an Elettra eigenartig. Und ich glaube, wenn ich noch etwas länger darüber nachdenken müßte, würde ich es wahrscheinlich anstößig finden.«
Es war an Brunetti, unschuldig zurückzufragen: »Anstößig?«
»Nur wenn ich noch länger darüber nachdenken müßte. Im Augenblick finde ich es nur eigenartig, kommentierungsbedürftig, ungewöhnlich.«
»Warum?« fragte er, wobei er sein Glas hinstellte und noch etwas Calvados nachschenkte.
Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Gesicht war eine Studie offenen Unverständnisses. Aber sie wiederholte seine Frage nicht, sondern versuchte sie zu beantworten. »Weil du in der letzten Woche kaum noch an etwas anderes gedacht hast, und weil ich annehme, daß deine heutige Fahrt nach Burano auch mit ihr zu tun hatte.«
Bewundert hatte er an Paola auch immer, daß sie keine Schnüfflerin war und Eifersucht nicht zu ihrer Ausstattung gehörte. »Bist du eifersüchtig?« fragte er, bevor er sich die Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken.
Ihr klappte das Kinn herunter, und die Augen, die ihn anstarrten, hätten an Stielen stecken können, so ungeteilt war ihre Aufmerksamkeit. Dann drehte sie sich weg, und an den Campanile von San Polo gerichtet, sagte sie: »Er möchte wissen, ob ich eifersüchtig bin.« Als der Campanile nicht antwortete, wandte sie den Blick in Richtung San Marco.
Wie sie so dasaßen und das Schweigen andauerte, verzog sich ganz langsam die Anspannung, als hätte die bloße Erwähnung des Wortes »Eifersucht« genügt, sie zu verjagen.
Die halbe Stunde schlug, und endlich sagte Brunetti: »Dafür besteht nämlich kein Grund, Paola. Ich will doch nichts von ihr.«
»Du willst ihre Sicherheit.«
»Das ist etwas für sie, nicht von ihr.«
Da drehte sie ihr Gesicht zu ihm und fragte ohne jede Spur ihrer sonstigen Heftigkeit: »Du glaubst das wirklich, ja, daß du nichts von ihr willst?«
»Natürlich«, verkündete er.
Sie wandte sich wieder von ihm ab und sah den Wolken nach, die jetzt höher waren und in Richtung Festland zogen.
»Was ist denn?« fragte er schließlich in die immer länger werdende Stille hinein.
»Nichts direkt. Wir sind nur an einem dieser Punkte angekommen, wo der Unterschied zwischen Männern und Frauen offen zutage tritt.«
»Welcher Unterschied?«
»In der Fähigkeit zum Selbstbetrug«, sagte sie, verbesserte sich aber gleich: »oder
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