Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
erklärte ihm die Situation. Ebenso freundlich wie direkt ergänzte er, daß es diesmal nicht um die Mafia gehe. Der Generale, dem dabei vielleicht durch den Kopf ging, daß seine Tochter sich um einen Lehrauftrag an der Ca'Foscari beworben hatte, gab sich über die Maßen hilfsbereit und versprach, Brunetti noch vor dem Mittag wieder anzurufen.
Ein Mann, ein Wort. Schon lange vor dem Mittag rief der Generale an, um zu sagen, er sei auf dem Weg zu einem Treffen mit einem Freund, der noch in der Guardia di Finanza arbeite, und wenn Brunetti sich in ungefähr einer Stunde auf ein Gläschen mit ihm treffen wolle, könne er ihm eine Kopie von Targhettas kompletter Personalakte geben.
Brunetti rief zu Hause an und war erleichtert, daß er nur mit dem Anrufbeantworter zu sprechen brauchte, auf dem er die Mitteilung hinterließ, daß er zum Mittagessen fortbleibe und abends zur gewohnten Zeit nach Hause kommen werde.
Der Generale war ein höflicher, weißhaariger Mann mit der aufrechten Körperhaltung eines Kavallerieoffiziers sowie der manierierten Aussprache der Oberschicht und ihrer Nacheiferer. Er schlürfte einen Prosecco, während Brunetti, der den Umfang der vor ihnen auf dem Tresen hegenden Akte gesehen hatte, rasch zwei Sandwichs verzehrte, die ihm das Mittagessen ersetzten. Sie redeten übers Wetter, wie man es in der Stadt schon seit drei Monaten tat, und beteuerten beide, wie sehr sie hofften, daß es bald regnen werde, denn nichts anderes könne die Augiasställe wieder sauber bekommen, zu denen die engsten calli inzwischen geworden waren.
Auf dem Rückweg zur Questura machte Brunetti sich Gedanken über sein widersprüchliches Verhalten gegenüber diesen beiden Männern, von denen das Material stammte, das er jetzt unterm Arm trug: Galardi hatte lediglich getan, was Betrunkene nun einmal tun, und Brunetti wollte nichts mit ihm zu schaffen haben. Generale Costantini, dessen Schuld über jeden Zweifel erhaben war, hatte dem Staat Schaden zugefügt, indem er dessen Geheimnisse an die Mafia verkauft hatte, und mit ihm traf Brunetti sich in aller Öffentlichkeit, lächelte, forderte Gefälligkeiten ein und wäre nicht auf die Idee gekommen, die Beziehungen in Frage zu stellen, die der Mann noch zur Guardia di Finanza hatte.
Sowie er aber wieder in seinem Dienstzimmer war und die Akte aufgeschlagen hatte, lösten alle derartigen jesuitischen Gedanken sich in nichts auf, und er widmete sich nur noch der Personalakte Carlo Targhetta. Der jetzt zweiunddreißigjährige Targhetta hatte zehn Jahre lang bei der Finanza gearbeitet, bevor er sich »zum Ausscheiden aus dem Dienst entschloß«, wie es in der Akte hieß. Der gebürtige Venezianer hatte in Catania, Bari und Genua Dienst getan, bis er vor drei Jahren nach Venedig versetzt wurde, ein Jahr vor dem Ereignis, das zu seinem Abgang führte. Die Akte war voll des Lobes von seinen sämtlichen Vorgesetzten, die von seinem Pflichtbewußtsein und seiner »äußersten Rechtschaffenheit« sprachen.
Soweit Brunetti es den Lobeshymnen in der Akte entnehmen konnte, war Targhetta zur Zeit seines Ausscheidens für die Entgegennahme anonymer Anrufe zuständig gewesen, mit denen Fälle von Steuerhinterziehung gemeldet wurden. Einen solchen Anruf hatte er nicht vorschriftgemäß weitergemeldet - vorsätzlich, wie die Finanza behauptete, während Targhetta beteuerte, es sei ein Versehen gewesen. Die Guardia di Finanza hatte es sich erspart, entscheiden zu müssen, was nun stimmte, indem sie Targhetta die Gelegenheit gegeben hatte, den Dienst zu quittieren, und er hatte das Angebot angenommen, obwohl er ohne Versorgungsbezüge ausschied.
Der Akte lag eine Tonbandkassette bei, auf der ein Datum stand, von dem Brunetti annahm, daß es der Tag des Anrufs war, der die Ereignisse in Gang gesetzt hatte. An den rückseitigen Deckel des Aktenordners war ein Stoß Papier geklammert, auf dem dasselbe Datum stand. Ein Blick darauf bestätigte die Vermutung, daß es sich um Abschriften der Anrufe handelte. Brunetti ging mit der Kassette in eines der Zimmer hinunter, in denen die Verhöre mitgeschnitten wurden, legte die Kassette in einen Recorder, drückte auf play und klappte die Akte auf.
Es folgte ein langes Gespräch, dessen Übertragung auf dem ersten Blatt stand. Eine Frau wollte darin ihren Mann anzeigen, einen Metzger, der sein Einkommen nicht vollständig angebe. Der Aussprache nach wohnte sie auf der Giudecca, und die Art, wie sie von ihrem Mann sprach, ver-riet jahrzehntelangen
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