Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
angerufen.«
Obwohl das rasche Eintreffen der Eltern die Zeit, die Brunetti mit Lucia allein sprechen konnte, verkürzen und jeden weiteren Kontakt mit ihr erschweren würde, sagte er: »Das war sehr freundlich von Ihnen, Signora.«
»Nicht doch - ich habe einfach nur das getan, was ich mir gewünscht hätte, wenn es um eine meiner Enkelinnen gegangen wäre.«
Brunettis Blick glitt unwillkürlich zur Schlafzimmertür. »Was meint denn der Doktor?«
»Als ich ihm sagte, daß ihre Eltern herkommen, verzichtete er darauf, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben. Aber er bat mich, ihr einen Lindenblütentee mit viel Honig zu machen. Gegen den Schock«, setzte sie hinzu.
»Ja, das ist eine gute Idee.« Brunetti hatte draußen Schritte gehört, und da er so rasch wie möglich mit dem Gerichtsmediziner sprechen wollte, sagte er: »Vielleicht kann der Ispettore hier bleiben, während Sie sich um den Tee kümmern.« Ein vielsagender Blick genügte, um Vianello zu instruieren, daß er die Signora in der Zwischenzeit über Claudia ausfragen sollte und über mögliche Bekannte, die sie in ihrer Wohnung besucht hatten.
Brunetti verabschiedete sich höflich und ging wieder nach oben, wo Dottor Rizzardi bereits neben dem toten Mädchen kniete und mit plastikbehandschuhten Fingern nach ihrem Puls tastete. Als er Brunetti kommen hörte, sah er auf und sagte: »Nicht, daß es noch Hoffnung gäbe, aber so sind nun mal die Vorschriften.« Er blickte wieder auf das Mädchen nieder, ließ ihre Hand los und erklärte: »Sie ist tot.« Dann verharrte er noch einen Moment in geziemendem Schweigen, ehe er sich erhob. Ein Fotograf, der mit ihm gekommen war, machte erst ein paar Frontalaufnahmen von der Leiche, umkreiste sie dann langsam und fotografierte sie aus jedem erdenklichen Blickwinkel. Endlich trat er zurück, machte noch eine letzte Aufnahme vom Eingang her, bevor er seine Kamera verstaute und hinausging, um dort auf den Doktor zu warten.
Brunetti kannte Rizzardi gut genug, um ihn nicht mit Vermutungen zu behelligen oder auf die Farbe des getrockneten Blutes aufmerksam zu machen. Statt dessen fragte er nur: »Wann würdest du sagen?«
»Wahrscheinlich irgendwann letzte Nacht, aber den Zeitpunkt kann ich erst bestimmen, wenn ich sie mir angeschaut habe.« Er meinte ›in sie hineingeschaut‹, und beide Männer wußten es, aber keiner konnte oder wollte es aussprechen.
Der Doktor betrachtete die Tote noch einmal und fragte: »Sicher möchtest du auch wissen, was die Mordwaffe war?«
»Ja, natürlich«, sagte Brunetti und trat unwillkürlich neben den Arzt. Rizzardi reichte ihm ein Paar durchsichtige Handschuhe und wartete, bis Brunetti sie übergestreift hatte.
Dann knieten beide nieder und schoben gleichzeitig die Hände unter den Leichnam. Langsam und so vorsichtig, wie ausgewachsene Männer normalerweise höchstens mit Babys umgehen, hoben sie erst die Schulter an, dann die Hüfte und drehten die Tote auf den Rücken.
Kein Messer oder eine andere Stichwaffe lag unter ihr, aber die verkrusteten Löcher in ihrer Baumwollbluse machten die Todesursache schockierend deutlich. Erst dachte Brunetti, es seien vier, doch dann entdeckte er weiter oben, an der Schulter, noch ein fünftes, alle auf der linken Körperhälfte.
Rizzardi öffnete die obersten zwei Knöpfe der Bluse und schlug die Revers zurück. Er untersuchte die Wunden, ja zog bei einer sogar die Hautränder auseinander, was Brunetti an ein perverses Gedicht erinnerte, das Paola ihm einmal vorgelesen hatte und in dem die Wundmale Christi mit offenen Lippen verglichen wurden. »Jeder dieser Stiche hätte tödlich sein können«, erklärte Rizzardi. »Nach der Obduktion kann ich's dir genauer sagen, aber der Fall liegt auch so ziemlich klar.« Damit schloß er die Bluse wieder, knöpfte sie sorgfältig zu und bedeutete Brunetti mit einem Nicken, daß sie wieder aufstehen könnten.
»Ich weiß, es ist nur ein dummer Aberglaube«, versetzte Rizzardi, »doch ich bin froh, daß ihre Augen geschlossen sind.« Und ohne weitere Überleitung fuhr er fort: »Ich würde sagen, du suchst nach einem Täter, der nicht sehr groß ist, nicht viel größer als das Opfer.«
»Wieso?«
»Der Einstichkanal. Wie es aussieht, ist die Waffe fast waagerecht eingedrungen. Wäre der Täter größer gewesen, wären die Stiche schräg von oben nach unten geführt worden. Soweit meine vorläufige Diagnose. Sobald ich den Einstichwinkel vermessen habe, kann ich dir ein Schaubild
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