Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
entspannte Atmosphäre die Befangenheit zu nehmen. In der Hoffnung, das wirke beruhigend, lächelte er sie an. Ihre Augen grün, wie die vieler Rothaariger, waren vom Weinen gerötet.
»Ich möchte Ihnen versichern, wie leid es mir tut, Signorina«, begann er. »Signora Gallante hat uns erzählt, was für ein reizendes Mädchen Claudia war. Bestimmt ist es sehr schmerzlich für Sie, eine so gute Freundin zu verlieren.«
Lucia senkte den Kopf und nickte.
»Könnten Sie mir ein bißchen was über Ihre Freundschaft erzählen? Wie lange wohnen Sie hier schon zusammen?«
Das Mädchen sprach mit leiser, fast unhörbarer Stimme, aber Brunetti beugte sich vor und verstand sie doch. »Ich bin vor ungefähr einem Jahr eingezogen. Claudia und ich waren in derselben Fakultät eingeschrieben, daher hatten wir zum Teil auch dieselben Seminare belegt, und als ihre frühere Mitbewohnerin auszog, fragte sie mich, ob ich das Zimmer übernehmen wolle.«
»Und wie lange wohnte Claudia da schon hier?«
»Ich weiß nicht. Ein oder zwei Jahre.«
»Sie kam aus Mailand, stimmt's?«
Das Mädchen hielt den Blick immer noch auf den Boden gesenkt, aber sie nickte wieder.
»Wissen Sie, wo Claudia herstammte?«
»Ich glaube, sie war von hier.«
Zuerst war Brunetti nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. »Aus Venedig?« fragte er ungläubig.
»Ja, Signore. Aber sie ist in Rom zur Schule gegangen.«
»Sie war hier zu Hause, wohnte aber nicht bei ihren Eltern, sondern mietete sich eine eigene Wohnung?«
»Ich glaube, sie hatte keine Eltern«, sagte Lucia. Aber dann merkte sie offenbar, wie befremdlich das klang, schaute Brunetti zum erstenmal offen an und setzte hinzu: »Ich meine, sie sind, glaube ich, tot.«
»Alle beide?« »Ihr Vater bestimmt. Ich weiß es, weil sie's mir gesagt hat.«
»Und ihre Mutter?«
Darüber mußte Lucia erst nachdenken. »Bei ihrer Mutter bin ich nicht ganz sicher. Ich hab immer angenommen, sie sei auch tot, aber gesagt hat Claudia das nicht.«
»Ist es Ihnen denn nicht merkwürdig vorgekommen, dass ihre Eltern, die doch sicher noch verhältnismäßig jung waren, alle beide tot sein sollten?«
Lucia schüttelte nur den Kopf.
»Hatte Claudia viele Freunde?«
»Freunde?«
»Studienkollegen, junge Leute, die herkamen, um mit ihr zu arbeiten oder zum Essen oder einfach nur zum Reden.«
»Ein paar Kommilitonen kamen manchmal zum Lernen, aber es war niemand dabei, für den sie sich besonders interessierte.«
»Hatte sie einen Freund?«
»Sie meinen einen fidanzato?« fragte Lucia in einem Ton, der den negativen Bescheid bereits vorwegnahm.
»Das oder einen Freund, mit dem sie hin und wieder ausging.«
Wieder schüttelte sie verneinend den Kopf.
»Und sonst? Fällt Ihnen irgend jemand ein, der ihr nahestand?«
Lucia überlegte ein Weilchen, bevor sie darauf antwortete. »Die einzige Person, über die oder mit der ich sie am Telefon habe reden hören, war eine Frau, die sie ihre Großmutter nannte. Das war sie aber nicht.«
»Und hieß diese Frau Hedi?« Brunetti war gespannt, wie Lucia darauf reagieren würde, daß die Polizei bereits von der sogenannten Großmutter wußte.
Doch Lucia fand das offenbar gar nicht verwunderlich, denn sie antwortete ganz gelassen: »Ja, so hieß sie, und ich glaube, sie war Deutsche oder Österreicherin. Jedenfalls haben sie sich am Telefon auf deutsch unterhalten.«
»Und Sie? Sprechen Sie Deutsch, Lucia?« Er nannte sie beim Vornamen, in der Hoffnung, die vertrauliche Anrede würde sie lockerer machen und ihr das Antworten erleichtern.
»Nein, Signore. Ich habe nie verstanden, worüber sie sprachen.«
»Hätten Sie's denn gern gewußt?«
Die Frage schien sie zu überraschen: Was um alles in der Welt konnte schon interessant sein an der Unterhaltung zwischen ihrer Mitbewohnerin und einer betagten Ausländerin?
»Haben Sie die alte Dame mal gesehen?«
»Nein. Aber Claudia hat sie besucht. Manchmal brachte sie Plätzchen mit, wenn sie von ihr kam, oder einen Mandelkuchen. Allerdings hab ich sie nie gefragt, sondern einfach angenommen, daß sie das Gebäck von ihr hatte.«
»Und wie kamen Sie darauf?«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht weil hier bei uns niemand mit solchen Zutaten bäckt. Zimt und Nüsse.«
Brunetti nickte.
»Erinnern Sie sich an irgend etwas, das Claudia vielleicht einmal über die alte Dame erzählt hat?«
»Was meinen Sie?«
»Na, zum Beispiel wie es kam, daß sie ihre, nun ja, Adoptivgroßmutter wurde? Oder wo die alte Dame
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