Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
nicht automatisch informiert, wenn Summen dieser Größenordnung eingeführt werden?«
»Nur im Einvernehmen mit der Bank, Signore.«
»Das ist ja kaum zu glauben!« entrüstete sich Brunetti.
»Ja, das meiste von dem, was Banken tun, ist schwer vorstellbar.«
Er erinnerte sich, daß Signorina Elettra, bevor sie zur Questura kam, für die Banca d'Italia gearbeitet hatte. Vermutlich wußte sie also, wovon sie sprach.
»Wie könnte man feststellen, was mit dem Geld geschah, nachdem es auf Claudias Konto eingegangen war?«
»Entweder durch eine Bankauskunft oder indem man sich Zugang zu ihrem Konto verschafft.«
»Was ist leichter?«
»Hat die Bank Ihnen freiwillig Auskunft gegeben? Vermutlich haben Sie doch gesagt, daß das Mädchen tot ist.«
Brunetti vergegenwärtigte sich das formelle Getue des Direktors. »Nein, er hat mich an die Kassiererin verwiesen, und die schickte mir eine Kopie der Eingänge und Abbuchungen. Aber eine Erklärung für die hohen Überweisungsbeträge bekam ich nicht.«
»Dann wären wir, denke ich, gut beraten, die Bankbelege selber zu überprüfen«, schlug Signorina Elettra vor.
Brunetti wußte natürlich, daß so etwas verboten war. Trotzdem zögerte er keine Sekunde. »Könnten wir das jetzt gleich angehen?«
»Nichts leichter als das, Commissario«, versetzte sie und trank ihren Kaffee aus.
Zurück im Büro studierten sie alle Informationen, die Signorina Elettra ihrem Computer entlockte, und stellten fest, daß Claudia Leonardo in den letzten Jahren ihr Vermögen über den ganzen Erdball verteilt hatte: Thailand, Brasilien, Ecuador und Indonesien waren nur einige der Länder, in die Gelder von ihrem Konto geflossen waren. Die Überweisungen folgten keinem erkennbaren Muster, und die jeweiligen Summen variierten zwischen zwei und zwanzig Millionen, beliefen sich insgesamt aber auf gut über dreihundert Millionen Lire. Weitere Beträge waren als assegni circolari an verschiedene Empfänger gegangen. Auch hier ließ sich kein Schema ausmachen, wohl aber dienten offenbar sämtliche Überweisungen ähnlichen Zwecken, denn alle gingen an karitative Einrichtungen: ein Waisenhaus in Kerala, Médecins sans Frontières, Greenpeace, ein AIDS-Hospiz in Nairobi.
»Paola hatte recht«, dachte Brunetti laut. »Sie hat alles verschenkt.«
»Für ein Mädchen ihres Alters ziemlich ungewöhnlich, oder?« fragte Signorina Elettra. »Wenn die Zahl stimmt«, sagte sie und deutete auf die Summe, die sie unterm Strich errechnet hatte, »dann kommt da fast eine halbe Milliarde Lire zusammen.«
Er nickte nur.
»Und nichts davon wurde versteuert, nicht wahr? Nicht, wenn das Geld ausschließlich wohltätigen Zwecken zugute kam.«
Sie brüteten noch eine Weile über den Zahlenkolonnen, aber mehr als der Gesamtbetrag und die Empfänger, denen die jeweiligen Summen zugegangen waren, ließ sich daraus nicht ersehen.
»Wird da irgendwo ein Notar oder Rechtsanwalt erwähnt?« fragte Brunetti plötzlich.
»Hier drin?« fragte sie zurück und deutete auf Claudias Papiere, die immer noch auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet lagen.
»Ja.«
»Nein. Aber ich habe die Telefonnummern in ihrem Adreßbuch noch nicht überprüft. Soll ich?«
»Wie? Indem Sie alle durchtelefonieren?« Brunetti griff nach dem Adreßbuch und schlug den Buchstaben A auf.
Hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde die Augen geschlossen? Brunetti war sich nicht sicher. Aber während er noch darüber nachdachte, nahm sie ihm das Büchlein aus der Hand und sagte: »Nein, Signore. Die Telecom kann jeder registrierten Nummer ohne weiteres Namen und Adresse zuordnen. Man braucht nur eine Telefonnummer in den Computer einzugeben, und im Handumdrehen spuckt das Programm die Daten des Teilnehmers aus.«
»Und würde man mir die durchgeben, wenn ich bei der Telecom anrufe?« fragte er.
»In anderen Ländern geht das über die Auskunft, aber hier hat einzig die Telecom Zugriff auf persönliche Daten, und ich glaube kaum, daß man sie Ihnen ohne Gerichtsbeschluß überlassen würde.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Aber mein Freund Giorgio hat mir eine Kopie des Programms besorgt.«
»Wunderbar! Würden Sie dann bitte alle Nummern überprüfen und feststellen, ob ein Anwalt oder Notar darunter ist?«
»Und dann?«
»Dann will ich den Betreffenden sprechen.« »Soll ich Ihnen einen Termin machen, falls ich fündig werde?«
»Danke, aber ich erscheine lieber unangemeldet.«
»Wie ein Dieb?« fragte sie.
»Wie ein Raubtier
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