Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
hatte.
»Klingt aber gar nicht nach der Art von Transaktionen, an denen sich ein Filipetto beteiligen würde«, warf Vianello ein.
»Was? Soviel Geld für wohltätige Zwecke zu spenden?«
»Überhaupt einen Finger für wohltätige Zwecke zu rühren«, antwortete Vianello.
»Noch wissen wir ja auch nicht, ob eine Verbindung zwischen ihm und Claudias Geld besteht«, sagte Brunetti, obwohl er nicht einen Augenblick daran zweifelte.
»Wann immer ein Filipetto und Geld im Spiel sind, gibt's da auch eine Verbindung.« Es klang wie eine Erkenntnis, die für einen Venezianer seit Generationen Gültigkeit besaß.
»Haben Sie eine Ahnung, wie alt der Notaio sein könnte?« fragte Brunetti.
»Ich schätze mal an die Neunzig.«
»Irgendwie merkwürdig, daß einer sich in dem Alter noch für Geld interessiert, oder?«
»Er ist eben ein Filipetto«, erwiderte Vianello und unterband damit jede Spekulation, zu der Brunetti sich womöglich hätte verleiten lassen.
Filipetto wohnte am Campo Bandiera e Moro, in einem Gebäude gleich rechts von der Kirche, in der Vivaldi getauft wurde und von deren Kunstschätzen während der Amtszeit eines früheren Pfarrers angeblich zahlreiche Bilder und Statuen in private Hände gelangt waren. Sie klingelten einmal und dann noch einmal, bis sich eine Frauenstimme über die Sprechanlage meldete und nach ihrem Namen fragte. Als Brunetti erklärte, er sei von der Polizei und wolle Notaio Filipetto sprechen, sprang die Tür auf, und die Stimme dirigierte sie in den ersten Stock.
Sie erwartete sie an der Wohnungstür, eine Frau von auffallend eckiger Erscheinung: Kinnpartie, Ellbogen, der Schnitt ihrer Augen - lauter abgezirkelte Konturen, die bisweilen in kantigem Winkel aufeinanderstießen. Keine Bögen, keine Rundungen: Sogar ihr Mund war ein schmaler, gerader Strich. »Ja?« fragte sie von dem gleichermaßen rechtwinkligen Türrahmen her.
»Ich hätte gern Notaio Filipetto gesprochen«, sagte Brunetti und hielt ihr seinen Dienstausweis hin.
Sie machte sich nicht die Mühe, ihn zu prüfen, sondern fragte nur: »In welcher Angelegenheit?«
»Eine, die den Notaio betreffen könnte«, sagte Brunetti.
»Nämlich?«
»Es handelt sich hierbei um eine polizeiliche Ermittlung, Signora«, sagte Brunetti, »über die ich leider nur mit dem Notaio persönlich sprechen kann.«
Entweder waren ihre Empfindungen leicht zu durchschauen, was Brunetti für unwahrscheinlich hielt, oder sie wollte ihn merken lassen, wie sehr sie seine Unnachgiebigkeit mißbilligte. »Er ist ein alter Mann. Sie können ihn nicht so ohne weiteres mit polizeilichen Ermittlungen behelligen.«
»Wer ist da, Eleonora?« rief eine hohe Fistelstimme aus dem Hintergrund. Als sie nicht antwortete, wurde die Frage wiederholt, und als sie immer noch schwieg, meldete sich die Stimme zum drittenmal: »Wer ist es, Eleonora?«
»Jetzt haben Sie ihn aufgeregt. Also kommen Sie schon herein«, sagte die Frau, trat in den Flur zurück und hielt ihnen die Tür auf. Irgendwo im Innern der Wohnung wiederholte die herrische Stimme abermals die immer gleiche Frage. Der Commissario war sicher, daß sie nicht eher verstummen würde, als bis sie eine Antwort bekam.
Brunetti sah, wie die Frau die Lippen zusammenpreßte, und fast tat sie ihm leid. Die Situation erinnerte ihn an etwas, aber er kam nicht darauf: eine Szene aus einem Buch.
Schweigend führte die Frau sie in den rückwärtigen Teil der Wohnung. Von hinten wirkte sie genauso eckig wie von vorn: Ihre schmalen Schultern standen parallel zum Fußboden, und ihr stark ergrautes, glattes, kinnlanges Haar war wie mt dem Lineal geschnitten.
»Ja doch, ich komme schon«, rief sie. Worauf die andere Stimme verstummte, sei es, daß die Antwort sie zufriedenstellte oder weil sie sich erschöpft hatte wie ein abgelaufenes Uhrwerk.
Sie kamen an eine große Doppeltür, deren intarsiengeschmückte Flügel offenstanden. »Er ist da drin«, sagte sie und ging als erste hinein.
Ein alter Mann saß an einem wuchtigen Schreibtisch, auf dem im Halbkreis allerlei Schriftstücke ausgebreitet lagen, matt beleuchtet von einer Leselampe, deren Schirm die obere Hälfte seines Gesichts verschattete.
Sein Mund war schmal, und die dünnen Lippen entblößten ein falsches Gebiß, das zu groß wirkte für das greisenhaft eingefallene Gesicht. Schwere Hautlappen, so lang, daß sie Brunetti an die Lefzen eines Jagdhundes erinnerten, hingen von den Mundwinkeln aufs Kinn herab; der runzlige Hals lag in schlaffen
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