Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
auf die Papiere auf dem Schreibtisch zu werfen. Eine aufgeschlagene Zeitschrift enthielt Fotos von II Duce in verschiedenen, aber ausnahmslos martialischen Posen. Das übrige waren irgendwelche Dokumente, aber bevor er etwas davon entziffern konnte, beanspruchte Filipetto aufs neue seine Aufmerksamkeit.
»Was sind das für Ermittlungen?« fragte er.
»Ihr Name, Signore«, sagte Brunetti in der Annahme, daß eine Telefonnummer so gut wie ein Name sei, »wurde unter den Papieren einer jungen Frau gefunden, die vor kurzem zu Tode kam, und ich wollte mich erkundigen, ob Sie vielleicht in irgendeiner Form mit ihr zu tun hatten.«
»Mit wem?«
»Claudia Leonardo«, sagte Brunetti.
Filipetto ließ nicht erkennen, ob der Name ihm etwas sagte. Doch während er sich angelegentlich über seine Schriftstücke beugte, erriet Brunetti mit dem durch langjährige Erfahrung geschulten Instinkt des Kriminalisten, daß der Alte Claudias Namen nicht zum erstenmal hörte. Und so ausführlich, wie die Zeitungen über den Mord berichtet hatten, wußte vermutlich so gut wie jeder in der Stadt von ihrem Schicksal.
»Wie war der Name?« fragte der Notar mit gesenktem Kopf.
»Claudia Leonardo, Signore. Sie starb hier in Venedig - sie wurde ermordet.«
»Und wie ist mein Name in ihren Nachlaß geraten?« fragte Filipetto und blickte wieder zu Brunetti auf. Danach, wie oder warum Claudia umgebracht worden sei, erkundigte er sich nicht.
»Das tut nichts zur Sache, Signore. Wenn Sie nie von ihr gehört haben, dann brauchen wir die Angelegenheit auch nicht weiterzuverfolgen.«
»Muß ich eine Aussage unterschreiben?« fragte Filipetto.
»Aber Signore!« ereiferte sich Brunetti in gut gespielter Bestürzung. »Ihr Wort genügt mir vollauf.«
Da bleckte Filipetto die Zähne zu einem rundum zufriedenen Lächeln. »Und Ihre Frau Mutter?« erkundigte er sich leutselig. »Ist sie noch bei uns?«
Brunetti hatte keine Ahnung, was der Alte damit meinte: ob seine Mutter noch lebe, was der Fall war; ob sie noch bei geistiger Gesundheit sei, was nicht der Fall war; oder ob sie weiterhin der politischen Ideologie anhinge, die ihrem Mann die Jugend geraubt und ihn um seinen Seelenfrieden gebracht hatte. Da sie diese Ideologie stets nur mit Verachtung gestraft hatte, beschränkte Brunetti sich tunlichst auf die erste Variante, als er die Frage bejahte.
»Gut, gut. Auch wenn heute wieder so mancher den Wert dessen zu begreifen scheint, was wir seinerzeit anstrebten, ist es doch beruhigend zu wissen, daß es noch Menschen gibt, die treu zu den alten Idealen stehen.«
»Ich bin sicher, solche wird es immer geben«, sagte Brunetti, und seine Stimme verriet keine Spur des Ekels, den diese Vorstellung in ihm wachrief. Dann erhob er sich, ließ den Besucherstuhl achtlos stehen und lehnte sich über den Schreibtisch, um dem Alten die Hand zu schütteln, die kalt und zerbrechlich in der seinen lag. »Es war mir eine Ehre, Signore«, sagte er. Wozu Vianello feierlich nickte, außerstande, seine rückhaltlose Zustimmung anders mitzuteilen.
Der Alte hob die Hand und winkte der Frau, die sich wieder an die Tür zurückgezogen hatte. »Eleonora, mach dich nützlich. Geleite den Commissario hinaus.« Dann lächelte er Brunetti zum Abschied wohlwollend zu und beugte sich wieder über seine Papiere.
Eleonora, deren Verhältnis zu dem Alten nach wie vor ungeklärt war, wandte sich um und führte sie zurück zum Ausgang. Brunetti versuchte gar nicht erst, den Schleier stummer Feindseligkeit, den sie während dieser Unterredung so fest um sich gezogen hatte, zu durchdringen, sondern beschränkte sich zum Abschied auf einen flüchtig gemurmelten Dank, ehe er vor Vianello die Treppe hinunterstieg und auf den campo hinaustrat.
16
D a kommt einem ja die Galle hoch«, knurrte Vianello, sobald sie draußen in der kühlen Abendluft standen.
»Nun, immerhin hat der Duce dafür gesorgt, daß die Züge pünktlich fuhren«, warf Brunetti ein.
»Sicher! Und was zählen am Ende schon ein paar Millionen Tote und ein zerstörtes Land, wenn nur die Züge pünktlich verkehren?«
»Genau.«
»Gott, da denkt man, diese Brut wäre längst ausgestorben, und kaum dreht man einen Stein um, hockt immer noch einer drunter.«
Brunetti seufzte zustimmend.
»Zur Not versteht man noch, daß die Jungen diesen verlogenen Mist glauben, weil ihnen in den Schulen keiner sagt, wie es wirklich war. Aber von denen, die es als Erwachsene miterlebt haben und gesehen haben, wo es hinführte, also
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