Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Sie gekommen sind«, sagte Ford und schritt nach rechts auf eine Tür zu. »Aber gehen wir doch in mein Büro. Dort sind wir ungestört.«
Das wären wir hier auch, dachte Brunetti, denn der Lesesaal war völlig leer, aber er nickte nur und folgte dem Mann. Fords Büro, ein Eckzimmer an der von der Isola di San Pietro abgekehrten Seite, hatte zwei Fensterfronten, wobei die an der Schmalseite nur auf die geschlossenen Läden des Hauses auf der anderen Straßenseite blickten.
Auch hier zogen sich an den Wänden zwischen den Fenstern mannshohe Bücherregale empor, die allerdings gut zur Hälfte mit Aktenordnern bestückt waren.
Als sie Platz genommen hatten, eröffnete Brunetti das Gespräch mit der Frage: »Sie sagten am Telefon, Claudia Leonardo habe hier in der Bibliothek gearbeitet?«
»Ja, ganz recht«, antwortete Ford. Er hatte auf die Autoritätsposition hinter seinem Schreibtisch verzichtet und sich Brunetti zwanglos an einem Besuchertischchen gegenübergesetzt. Mit seinen hellbraunen Augen und der geraden Nase war er ein, zumindest nach britischem Geschmack, gutaussehender Mann.
»Für wie lange?«
»Ungefähr drei Monate, vielleicht nicht ganz.«
»Und was hat sie hier gemacht?«
»Neuzugänge katalogisiert, unseren Lesern bei Recherchen geholfen... alles, was normalerweise zu den Aufgaben einer Bibliothekarin gehört.« Ford antwortete Brunetti so ruhig und gefaßt, als wolle er ihm zeigen, daß er seine Fragen verständlich finde, ja vielleicht sogar damit gerechnet habe.
»Aber sie studierte doch noch, war also vermutlich keine ausgebildete Bibliothekarin. Woher wußte sie denn, was sie zu tun hatte?«
»Ach, Claudia war sehr aufgeweckt.« Hier lächelte Ford zum erstenmal. Doch seine Augen blickten traurig, als er sich das junge Mädchen loben hörte. »Im übrigen unterscheidet sich ein Forschungsarchiv wie das unsere gar nicht so sehr von den Seminarbibliotheken, mit denen sie von der Universität her vertraut war.«
»Aber haben sich die Recherchegewohnheiten durch das Internet nicht doch sehr verändert?« fragte Brunetti.
»Ja, natürlich, in manchen Bereichen schon. Aber die Informationen, die wir anbieten und an denen unsere Benutzer interessiert sind, also dazu findet man im Internet leider nur sehr wenig.«
»Zum Beispiel?«
»Augenzeugenberichte von Kriegsteilnehmern oder ehemaligen Mitgliedern der Resistenza. Letzte Nachrichten über gefallene oder vermißte Soldaten. Die Schauplätze weniger bekannter Kämpfe oder Gefechte. Lauter Fragen aus diesem Umfeld.«
»Und wer interessiert sich dafür?«
Fords Stimme war lebhafter geworden, sobald das Gespräch sich von dem Mordopfer eines vor wenigen Tagen verübten Verbrechens fortbewegte und er abschweifen konnte zu den Opfern eines Krieges, der ein halbes Jahrhundert zurücklag. »Sehr oft bekommen wir Anfragen von Angehörigen der Männer, die als vermißt gemeldet wurden oder angeblich in Gefangenschaft gerieten. Manchmal werden die Gesuchten in Tagebüchern oder Briefen ehemaliger Soldaten erwähnt, die in der selben Region kämpften oder zur selben Zeit in Gefangenschaft gerieten. Da unsere Bestände größtenteils unveröffentlicht sind, können die Interessenten sie allerdings nur hier vor Ort einsehen.«
»Aber erhält man solche Auskünfte denn nicht übers Archivio di Stato?« fragte Brunetti.
»Leider stellt das Staatsarchiv seine Informationen der Öffentlichkeit nur sehr bedingt zur Verfügung. Und hier wähle ich meine Worte mit Bedacht: Selbstverständlich haben sie die Informationen, aber sie geben sie anscheinend nur widerwillig heraus. Und wenn, dann erst nach nervenaufreibenden Verzögerungen.«
»Ja, aber wieso?« fragte Brunetti.
»Weiß der Himmel«, seufzte Ford deutlich frustriert. »Ich kann Ihnen nur schildern, wie es funktioniert oder besser gesagt nicht funktioniert.« Wie jeder Historiker, der sich für sein Fachgebiet erwärmt, geriet nun auch er zusehends in Fahrt. »Jedenfalls werden private Anfragen beim Staatsarchiv durch unnötige Formalien erschwert, aber in so einer Behörde gehen die Uhren eben einfach anders.« Brunetti erkundigte sich nicht, wie das gemeint sei; Ford erklärte es trotzdem. »Zu mir sind schon Leute gekommen, die beim Archiv vor dreißig Jahren Akteneinsicht beantragt hatten. Ein Mann brachte mir die vollständige Korrespondenz zu den Nachforschungen über den Verbleib seines Bruders, von dem er zuletzt 1945 gehört hatte. Er hatte einen ganzen Ordner voll mit Standardbriefen
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