Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
war, seine Tochter ihn gewiß verstanden hätte.
»Und sie hat sich nie zu diesen Anrufen geäußert?«
»Nein. Außerdem war ich ja nur ein paarmal dabei.«
»Aber sie bekam doch sicher noch andere Anrufe, von Leuten, die auch Sie kannten?«
»Ja, manchmal. Ich kannte die Stimme der Österreicherin und die von ihrer Tante.« »Der aus England?«
»Ja.«
Brunetti fiel nichts weiter ein, was er das Mädchen noch hätte fragen können. Also bedankte er sich für ihre Hilfe und sagte, er würde sich vielleicht noch einmal melden, hoffe aber, daß er sie nicht mehr mit schmerzlichen Erinnerungen quälen müsse.
»Schon in Ordnung, Commissario. Ich wäre froh, wenn Sie den finden, der's getan hat«, sagte sie.
22
A ls Brunetti am nächsten Tag in die Questura kam, hielt ihm der Posten am Eingang einen Umschlag hin. »Ein Mann hat das für Sie abgegeben, Commissario.«
»Was denn für ein Mann?« Brunetti blickte auf das braune Kuvert in der Hand des jungen Polizisten und dachte an Briefbomben, Terroristen, tödliche Anschläge.
»Keine Angst, Signore. Er hat Venezianisch gesprochen«, sagte der Posten.
Brunetti nahm die Sendung entgegen und stieg die Treppe hinauf. Der Umschlag war etwas größer als ein Standardbrief und enthielt anscheinend irgend etwas Kompaktes, vielleicht ein Bündel Papiere. Brunetti drückte und schüttelte ihn, wartete aber mit dem Offnen, bis er an seinem Schreibtisch saß. Dort warf er auch erstmals einen Blick auf die Vorderseite, wo in Blockbuchstaben mit lila Tinte sein Name geschrieben stand.
Er kannte nur einen, der solche Tinte benutzte: Marco Erizzo hatte sich als erster aus ihrer Clique einen Montblanc-Füller gekauft, und bis auf den heutigen Tag trug er zwei davon in seiner Jackentasche.
Brunetti wurde das Herz schwer, als er zu erraten glaubte, was der Umschlag enthielt: Ein Bündel Papier konnte nur eins bedeuten, und das von seinem Freund! Er beschloß, kein Wort darüber zu verlieren, das Geld zu spenden und nie wieder mit Marco zu sprechen. Im Geiste hörte er wieder Marcos erbittertes »disonorato«, und der Gedanke an das jähe Ende einer so langen Freundschaft schnürte ihm die Kehle zu.
Er schob den Daumennagel unter die Klappe, riß den Umschlag auf, entnahm ihm ein dickes Blatt beigen Kanzleipapiers und ein kleines, versiegeltes Kuvert. Das Schreiben, das er als erstes entfaltete, war schwungvoll mit schräg geneigten Schriftzügen in der nämlichen Tinte bedeckt.
»In beiliegendem Kuvert findest Du etwas von dem Rosmarin, den Maria von ihrem Sohn auf Sardinien bekommt. Sie läßt Dir ausrichten, man solle nur etwa einen halben Teelöffel auf ein Kilo Muscheln nebst einem Pfund Tomaten nehmen und keine anderen Gewürze beigeben.«
Brunetti hielt sich das kleine Kuvert unter die Nase und atmete das Aroma der Liebe.
Im Lauf des Tages wurde der Commissario zunehmend unschlüssig, ob und in welche Richtung man den Tod der Signora Jacobs untersuchen solle. Rizzardis Bericht, der gegen elf per Fax einging, bestätigte, daß die Hämatome an den Armen der Toten durchaus von einem Sturz herrühren konnten. Todesursache war eindeutig Herzinfarkt, ein so schwerer, daß die Tabletten, die die Signora nahm, sie womöglich nicht hätten retten können.
Kurz vor der Mittagspause kam Vianello in sein Büro. Er hatte mit den Nachbarn gesprochen, aber ganz wie bei den Leuten in Claudia Leonardos Haus hatte auch in der Umgebung von Signora Jacobs niemand etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Als Brunetti wissen wollte, ob er auch den Tabakhändler befragt habe, sah Vianello ihn verständnislos an. Und als Brunetti ihm das Arrangement mit dem Schlüssel erklärte, sagte Vianello, es sei niemandem eingefallen, dieser Spur nachzugehen.
Und von da an traten sie auf der Stelle. Am Nachmittag ließ Patta den Commissario zu sich rufen und erkundigte sich nach den Fortschritten im Mordfall »dieses Mädchens«, und Brunetti war genötigt, eine ernste Miene aufzusetzen und dem Chef zu versichern, daß sie in jede nur denkbare Richtung ermittelten. Wie es der Zufall wollte, waren in dieser Woche über einhundert Mafiabosse aus der Haft entlassen worden, weil das Justizministerium es nicht geschafft hatte, das Verfahren gegen sie vor Ablauf der festgesetzten Frist zu eröffnen; natürlich fiel die Pressemeute daraufhin so vehement über den Minister her, daß ihr ein kleiner Mord in Venedig gar nicht mehr auffiel - weshalb die ausbleibenden Ermittlungserfolge Patta denn auch
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