Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Fuß stieß er die Schreibtischlade zu, stand auf und verließ sein Büro und die Questura. Da er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, machte er einen Umweg über den Campo San Maurizio, wo eine Freundin eine SchmuckWerkstatt betrieb. Aber er war mit den Gedanken woanders und nahm kaum wahr, was sie ihm zeigte. So tauschten sie nur einen Wangenkuß, und er versprach, bald einmal mit Paola zum Essen zu kommen. Dann überquerte er den campo und wandte sich zum Canal Grande.
Sechs Jahre waren vergangen, seit er Perullis Wohnung zum letzten Mal betreten hatte. Das war gegen Ende einer langwierigen Ermittlung gewesen, bei der es um Drogengelder ging; Brunetti verfolgte damals eine heiße Spur, die von den Nasen jugendlicher New Yorker zu einem diskreten Schweizer Konto führte und auf dem Wege dorthin lange genug in Venedig verweilte, um zwei Gemälde aufzutun, die sich zu dem Barvermögen im Tresorraum jener ungemein diskreten Bank gesellen sollten. Das Geld war unbehelligt durch die himmlischen Regionen des Cyberspace gereist, aber die Bilder, die aus einem weniger überirdischen Stoff gemacht waren, hatte man am Genfer Flughafen abgefangen. Das eine stammte von Palma il Vecchio, das andere von Marieschi, und da mithin beide zum kulturellen Erbe Italiens gehörten, konnten sie nicht außer Landes gebracht werden, zumindest nicht auf legalem Wege.
Keine vier Stunden nachdem die Gemälde sichergestellt worden waren, hatte Augusto Perulli sie bei den Carabinieri als gestohlen gemeldet. Daß er einen Tip bekommen hatte und von der Beschlagnahme wußte - ein ungeheuerlicher Gedanke, denn er war gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Korruption in den Reihen der Polizei -, ließ sich nicht nachweisen. Also beschloß man, Brunetti, der seit der gemeinsamen Schulzeit viele Jahre lang freundschaftlich mit Perulli verkehrt hatte, zu einem informellen Gespräch mit ihm zu entsenden. Nur daß diese Entscheidung erst einen Tag nach dem Bilderfund getroffen wurde, und da war der Mann, der sie außer Landes schaffen sollte, schon wieder auf freiem Fuß. Welches bürokratische Versehen zu solch einem Schnitzer führen konnte, wurde der italienischen Polizei nie zufriedenstellend erklärt.
Als Brunetti endlich mit seinem alten Schulfreund sprach, sagte Perulli, er habe erst tags zuvor bemerkt, daß die Bilder verschwunden waren, und könne sich nicht erklären, wie es passiert sei. Als Brunetti wissen wollte, wieso denn nur zwei Bilder gestohlen worden seien, blockte Perulli alle weiteren Fragen ab, indem er Brunetti sein Ehrenwort gab und beteuerte, er wisse von nichts. Brunetti glaubte ihm.
Zwei Jahre später ging der Mann, den man mit den Gemälden geschnappt hatte, den Schweizern erneut ins Netz; diesmal in Zürich, weil er als Schleuser illegale Einwanderer ins Land gebracht hatte. In der Hoffnung, sein Strafmaß zu mindern, gab der Mann zu, daß ihm die Gemälde seinerzeit von Perulli persönlich übergeben worden waren, mit der Weisung, sie über die Grenze zu schaffen und bei ihrem neuen Eigentümer abzuliefern. Perulli aber war mittlerweile ins Parlament gewählt worden und genoß diplomatische Immunität.
»Ciao, Guido«, grüßte Perulli, als er Brunetti hereinließ, und streckte ihm die Hand entgegen.
Brunetti merkte selbst, wie theatralisch sein Zögern vor dem Händedruck wirkte, und Perulli merkte es auch. Keiner von beiden machte ein Hehl daraus, daß er vor dem anderen auf der Hut war, und sie prüften einander ganz ungeniert darauf, welche Spuren die Jahre hinterlassen hatten, die seit ihrer letzten Begegnung verstrichen waren.
»Es ist lange her, nicht wahr?« meinte Perulli, während er sich umwandte und Brunetti in die Wohnung vorausging. Hochgewachsen und schlank, wie er war, bewegte Perulli sich noch immer mit der Geschmeidigkeit eines Jünglings, ganz so, wie Brunetti ihn aus der gemeinsamen Schulzeit in Erinnerung hatte. Sein Haar war noch voll, allerdings trug er es länger als früher, seine Haut glatt und straff, und auf den gebräunten Zügen lag der Abglanz eines sonnenreichen Sommers. Wann, dachte Brunetti, hatte er angefangen, in den Gesichtern seiner Jugendfreunde nach den ersten verräterischen Spuren des Alterns zu forschen?
Die Wohnung war noch weitgehend so, wie er sie in Erinnerung hatte: hohe, gut geschnittene Räume, in denen Sofas und Sessel, in zwanglosen Sitzgruppen arrangiert, zu offenen, ja vertraulichen Gesprächen einluden. An den Wänden hingen Porträts von Männern und Frauen
Weitere Kostenlose Bücher