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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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sagt, das Tor wird abends um zehn geschlossen«, berichtete Pucetti. »Vom Lehrkörper hat allerdings fast jeder einen Schlüssel. Wer von den Schülern zu spät kommt, muß sich bei ihm melden, sagt er, sonst werden sie nicht eingelassen.«
    »Und weiter?« forschte Brunetti, den Pucettis skeptischer Ton hellhörig gemacht hatte.
    »Ich weiß selbst nicht recht, aber zwei von den Jungs, die ich, wohlgemerkt getrennt voneinander, befragt habe, machten sich lustig über dieses angeblich so strenge Reglement. Und als ich den Grund wissen wollte, da lächelte der eine und machte so.« Pucetti legte den Kopf in den Nacken und führte mit unmißverständlicher Geste die Hand zum Mund.
    Brunetti nickte stumm, und Pucetti fuhr fort: »Ich glaube den Jungs, zumal der portiere eindeutig Alkoholiker ist. Der war schon am Vormittag, als ich mit ihm gesprochen habe, fast hinüber.«
    »Können das auch die anderen Schüler bezeugen?«
    »Ich weiß nicht, ich wollte ihnen keine Fangfragen stellen Commissario. Und was ich von wem erfahren habe, behalte ich sowieso lieber für mich. Man ist immer im Vorteil, wenn die Zeugen glauben, man sei ohnehin über alles informiert. Dann kriegen sie's nämlich mit der Angst und fürchten, daß man jede Lüge durchschaut. Aber was die Hausordnung in San Martino angeht: Also ich hatte den Eindruck, daß die Schüler kommen und gehen können, wie es ihnen beliebt.«
    Brunetti nickte ihm aufmunternd zu, aber Pucetti hob bedauernd die Schultern. »Viel mehr habe ich nicht in Erfahrung gebracht, Commissario. Die meisten waren so geschockt, daß sie meine Fragen immer nur mit Gegenfragen beantworten konnten.«
    »Und was für Fragen haben Sie ihnen gestellt?«
    »Da habe ich mich ganz an Ihre Weisungen gehalten, Commissario: Wie gut sie Moro kannten, ob sie in den letzten Tagen Kontakt mit ihm hatten ... Sie werden es nicht glauben, aber angeblich konnte sich keiner erinnern, ob der Junge jemals etwas Auffälliges gesagt oder getan hatte. Niemand wollte bestätigen, daß er ein Sonderling, ein Außenseiter war, und niemand wollte sein Freund gewesen sein.«
    »Und die Lehrkräfte?« fragte Brunetti.
    »Dasselbe Lied. Keinem ist irgend etwas aufgefallen, und alle beteuern, daß er ein prächtiger, ein ganz prächtiger Junge gewesen sei. Aber jeder beeilt sich hinzuzufügen, daß er ihn eigentlich kaum gekannt hat.«
    Ein Phänomen, das allen dreien nur zu vertraut war: Sobald es zur Vernehmung kam, stellten die meisten Zeugen sich blind und taub. Nur in Ausnahmefällen war einer bereit, sein Wissen preiszugeben. Das Problem war offenbar keineswegs neu: Schon eine Abhandlung aus dem Mittelalter, die Paola in ihrer Dissertation ausgewertet hatte, trug den beredten Titel The Cloud of Unknowing. Brunetti stellte sich diese Wolke des Nichtwissens als ein warmes, trockenes Plätzchen vor, wohin alle geladenen und potentiellen Zeugen flüchteten, um dicht zusammengedrängt wie die Lemminge auszuharren, bis alle lästigen Fragen vorübergezogen waren.
    »Ich wollte natürlich auch mit seinem Stubenkameraden sprechen«, fuhr Pucetti fort, »aber der war letzte und vorletzte Nacht gar nicht in San Martino.« Und als seine Zuhörer interessiert aufblickten, erklärte er: »Dreiundzwanzig Schüler, darunter auch Moros Mitbewohner, waren übers Wochenende in Livorno, zu einem Fußballmatch gegen die dortige Marineakademie. Das Spiel fand Sonntag nachmittag statt, gestern und heute haben die Jungs am Unterricht der Gastgeber teilgenommen. Sie kommen erst heute abend zurück.«
    Müde und resigniert schüttelte Vianello den Kopf. »Ich fürchte, die können wir auch vergessen.« Und Pucetti, der offenbar genauso pessimistisch war, hob nur stumm die Schultern.
    Brunetti unterdrückte die Bemerkung, daß nichts anderes zu erwarten sei von einer Gesellschaft, der die Obrigkeit und ihre Vertreter als natürliche Widersacher galten. Er war belesen genug, um zu wissen, daß es anderswo Länder gab, deren Bürger nicht diese feindselige Haltung einnahmen, sondern in der Regierung ein dienendes Organ sahen, das ihre Interessen wahrnahm und ein offenes Ohr für ihre Wünsche hatte. Allein, wie würde er reagieren, wenn einer seiner Bekannten behauptete, das nämliche gelte auch für diese Stadt, dieses Land? Wahrscheinlich würde er denjenigen für verrückter halten als irgendwelche Spinner mit religiösen Wahnvorstellungen.
    Diese krausen Überlegungen behielt er wohlweislich für sich. Vianello und Pucetti sollten, auch

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