Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
gefunden hatte, fuhr Paola fort: »Ich glaube, was dir so gegen den Strich geht, ist nicht, daß manche Menschen mehr besitzen als andere, sondern daß die Reichen nicht begreifen oder nicht einsehen wollen, daß ihr Geld sie weder über die anderen erhebt noch ihnen das Recht gibt, sich alles herauszunehmen.« Als er das nicht in Abrede stellte, fügte sie hinzu: »Und du stößt dich an ihrer Weigerung, auch nur ansatzweise darüber nachzudenken, daß sie ihr Vermögen schließlich nicht aus eigener Kraft erworben oder verdient haben.« Sie lächelte ihn an. »So erkläre zumindest ich mir, warum dir diese Schicht so verleidet ist.«
»Und du?« fragte er. »Bist du auch gegen sie?«
Paola lachte schallend. »Das kann ich mir nicht leisten«, sagte sie. »Dafür gibt's zu viele davon in meiner Familie.«
Er stimmte in ihr Lachen ein, und sie setzte hinzu: »Als ich jung war und noch mehr Ideale hatte, da habe ich mich schon gegen sie aufgelehnt. Aber mit der Zeit sah ich ein, daß sie sich nicht ändern würden, und außerdem waren mir einige von ihnen inzwischen sehr ans Herz gewachsen, und ich wußte, daran würde sich nie etwas ändern - also blieb mir keine andere Wahl, als sie so zu nehmen, wie sie sind.«
»Die Liebe geht über die Wahrheit?«
»Tut mir leid, aber die Liebe geht über alles, Guido«, sagte sie in vollem Ernst.
Am nächsten Morgen stieß Brunetti auf dem Weg zur Questura auf eine Ungereimtheit im Fall Moro, die er bislang übersehen hatte: Wieso war der Junge eigentlich Internatszögling gewesen? Das strenge Reglement der San Martino mit all ihren Richtlinien und Vorschriften hatte ihn so sehr beschäftigt, daß, als er Ernestos Zimmer durchsuchte, die naheliegende Frage unterblieb, wieso in einer Gesellschaft, die junge Menschen darin bestärkte, bis zur Heirat daheim zu leben, ausgerechnet dieser junge Mann nicht bei seinen Eltern wohnte, obwohl doch beide in Venedig ansässig waren.
Am Eingang zur Questura wäre er um ein Haar mit Signorina Elettra zusammengestoßen. »Gehen Sie außer Haus?« fragte er.
Sie sah auf die Uhr. »Brauchen Sie etwas, Signore?« fragte sie zurück. Aber der Commissario merkte nicht, daß das eigentlich keine rechte Antwort war.
»Ja, ich wollte Sie bitten, für mich einen Anruf zu übernehmen.«
Sie trat bereitwillig in den Flur zurück. »Bei wem?«
»Der Akademie San Martino.«
Mit unverhohlener Neugier in der Stimme fragte sie:
»Und was soll ich denen sagen?« Inzwischen waren sie schon an der Treppe, die zu ihrem Büro hinaufführte.
»Ich möchte wissen, ob es Vorschrift ist, daß die Jungen in der Schule wohnen, oder ob die Akademie denjenigen, die in Venedig zu Hause sind, auch als Tagesschülern offensteht. Es geht mir darum herauszufinden, wie starr dort die Regeln sind. Vielleicht könnten Sie sich als Mutter eines Aspiranten ausgeben und sagen, Ihr Sohn sei gerade mit dem Gymnasium fertig, er habe von klein auf keinen sehnlicheren Wunsch gehabt als den, Offizier zu werden, und da Sie Venezianerin sind, wollten sie ihm nun den Besuch der San Martino ermöglichen, die doch ein so hohes Ansehen genießt.«
»Und sollte meine Stimme von patriotischem Stolz erfüllt sein, während ich diese Fragen stelle?«
»Bis zum Ersticken!« bekräftigte er.
Sie hätte es nicht besser machen können. Neben einem makellos reinen und geschliffenen Italienisch beherrschte Signorina Elettra auch einen sehr altertümlichen venezianischen Dialekt. Jetzt am Telefon gelang es ihr, beide so perfekt zu vermischen, daß sie haargenau so klang wie die Frau, für die sie sich ausgab: die venezianische Gattin eines römischen Bankiers, der soeben zum Direktor der venezianischen Filiale einer Bank ernannt worden war, deren Namen sie lässig überging. Nachdem sie die Sekretärin der Akademie hatte warten lassen, während sie nach Stift und Papier suchte - und sich dann dafür entschuldigte, beides nicht griffbereit neben dem Telefon zu haben, so wie ihr Mann es immer predigte -, ließ sie sich den nächsten Einschulungstermin nennen, erkundigte sich nach den Bestimmungen für Nachzügler sowie nach der Zustelladresse für Zeugnisse und Empfehlungsschreiben. Als die Sekretärin sie über die Schulgebühren, den Preis der Uniformen und so weiter informieren wollte, winkte die Bankiersgattin souverän ab und erklärte, um solche Details kümmere sich ihr Wirtschaftsberater.
Brunetti, der über Lautsprecher mithörte, war verblüfft über den Elan, mit dem Signorina
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