Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
gesagt, was sie wußte. Und da ihm keine weiteren Fragen einfielen, erhob er sich. »Vielen Dank, Signora«, sagte er und beugte sich nieder, um ihr die Hand zu schütteln.
Sie nickte lächelnd und schob ihren Rollstuhl zur Tür hin. Brunetti war vor ihr dort und griff schon nach der Klinke, als sie ihm Einhalt gebot: »Warten Sie!« In der Annahme, daß ihr noch etwas Wichtiges eingefallen sei, drehte Brunetti sich um, spürte aber im selben Moment einen plötzlichen Druck gegen seine linke Wade. Es war Gastone, der sich an sein Bein schmiegte und diesem Fremden schöntat, der die Macht hatte, Türen zu öffnen. Brunetti hob den Kater auf, erstaunt, wie schwer er war. Lächelnd setzte er ihn der Frau auf den Schoß, verabschiedete sich und verließ die Wohnung, allerdings nicht, ohne sich zu vergewissern, daß kein Gastone zwischen Tür und Rahmen herumstrich.
Sobald er von Beatrice Della Vedova erfahren hatte, daß Signora Moro seit zwei Tagen verschwunden war, wußte Brunetti, was er zu tun hatte. Er stieg unverzüglich eine Treppe höher und stand gleich darauf vor ihrer Wohnungstür. Das Schloß war ein ganz einfaches Modell: Der Wohnungseigentümer war offenbar nicht sonderlich darauf bedacht, seine Mieter vor Einbrechern zu schützen. Brunetti zückte seine Brieftasche und entnahm ihr eine schmale Plastikkarte. Die hatte Vianello vor ein paar Jahren einem Einbrecher abgenommen, den seine erfolgreiche Karriere leichtsinnig gemacht hatte. Vianello hatte sich der Karte mehr als einmal und natürlich immer streng gesetzwidrig bedient, um sie dann, als er vom Sergente zum Ispettore befördert wurde, Brunetti zu verehren, in dankbarer Anerkennung für dessen beharrliche Unterstützung, ohne die seine Beförderung wohl nie zustande gekommen wäre. Wenn Brunetti auch zunächst den Verdacht hegte, Vianello wolle sich womöglich nur einer gefährlichen Versuchung entledigen, so hatte die Karte ihm inzwischen so viele gute Dienste geleistet, daß er das großzügige Geschenk gebührend zu würdigen wußte.
Er klemmte die Karte zwischen Tür und Pfosten, zog sie bis zum Schloß durch, und schon gab die Klinke nach. Gewohnheitsmäßig blieb er auf der Schwelle stehen, sog die Luft ein und schnupperte nach dem Geruch des Todes. Er roch Staub und abgestandenen Zigarettenrauch und den Nachgeschmack eines scharfen Reinigungsmittels, aber keine Spur von verwesendem Fleisch. Erleichtert schloß er die Tür hinter sich und ging ins Wohnzimmer, das er genauso vorfand wie bei seinem ersten Besuch: die Möbel unverändert am selben Platz, und auch das Buch, das aufgeklappt, mit der Schrift nach unten, auf der Armlehne eines Sofas gelegen hatte, war noch da und womöglich immer noch an derselben Stelle aufgeschlagen.
Die Küche war aufgeräumt: kein schmutziges Geschirr in der Spüle, und als er mit der Schuhspitze die Kühlschranktür öffnete, fanden sich darin keinerlei verderbliche Speisen. Brunetti nahm einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts und klappte eine nach der anderen die Schranktüren auf: Das einzige, was er entdeckte, war eine offene Kaffeedose.
Im Bad öffnete er mit einem Handknöchel das Medizinschränkchen, das nichts weiter enthielt als ein Röhrchen Aspirin, eine benutzte Duschhaube, eine noch ungeöffnete Shampooflasche und eine Packung Nagelsandfeilen. Die Handtücher auf dem Ständer waren trocken.
Nun blieb nur noch das Schlafzimmer übrig, aber Brunetti war nicht wohl, als er es betrat: Dieser Teil seiner Arbeit war ihm gründlich zuwider. Auf dem Nachttisch neben dem Bett lag eine feine Staubschicht, in der sich deutlich ein schmales Rechteck abzeichnete: Hier hatte Signora Moro offenbar ein Foto entfernt. Zwei weitere fehlten auf der Kommode. Dagegen schienen Schrank und Schubladen unberührt, und unter dem Bett lagen zwei Koffer. Brunetti überwand alle Scham und schlug an der nächst der Tür gelegenen Seite des Doppelbetts die Decke zurück und hob das Kissen hoch. Darunter lag, sorgsam zusammengefaltet, ein weißes Oberhemd. Brunetti zog es hervor und breitete es auseinander. Ihm hätte es gepaßt, aber für Signora Moro war es in der Schulter viel zu breit, und die Ärmel reichten ihr sicher bis weit über die Hände. Ungefähr in Höhe des Herzens entdeckte Brunetti ein so zart gesticktes Monogramm, daß es nur aus Seide sein konnte, und entzifferte die verschlungenen Initialen FM.
Brunetti faltete das Hemd wieder zusammen und legte es an seinen Platz; dann zog er die Decke hoch und
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