Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
abgemeldet wurde. Darum könne sie leider nicht mehr tun, als mir die Schulordnung zu erklären.«
»Und wo ist sie nun? Ein kleines Mädchen kann doch nicht einfach verschwinden«, beharrte Brunetti.
»Sie könnte überall sein«, sagte Signorina Elettra und fügte hinzu: »Aber sie ist nicht in Siena.«
Brunetti warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Ich habe das dortige Polizeipräsidium angerufen und anschließend die Meldelisten der Schulen durchgesehen. Weder die kleine Moro ist irgendwo erfaßt noch ein Kind von den Ferros.«
»Jetzt ist auch noch die Mutter verschwunden«, sagte Brunetti, erzählte ihr von seinem heimlichen Besuch in Signora Moros Wohnung, von dem Hemd, das er unter ihrem Kissen gefunden und welche Schlüsse er daraus gezogen hatte.
Signorina Elettra wurde erst blaß, dann schoß ihr das Blut ins Gesicht. »Sein Hemd?« fragte sie dann, und bevor er antworten konnte, wiederholte sie: »Sein Hemd?«
»Ja«, bestätigte Brunetti. Er wollte schon fragen, was sie davon hielte, aber ein Blick in ihr Gesicht genügte, und ihm war klar, daß sie dabei nur an einen Mann denken konnte. In das qualvolle Schweigen hinein, das die Erinnerung an ihren Verlust heraufbeschworen hatte, sagte er: »Hätten Sie vielleicht eine Idee, wie wir das Kind ausfindig machen könnten?« Obwohl sie ihn überhaupt nicht zu hören schien, fuhr er fort: »Irgendwie muß es doch möglich sein. Vielleicht gibt es ja irgendwo ein Zentralregister, in dem alle schulpflichtigen Kinder erfaßt sind?«
Mit einer Stimme, die von weit her zu kommen schien, sagte Signorina Elettra leise: »Eventuell ginge es über ihre Krankenakte oder falls sie bei den Pfadfindern war.«
Bevor sie noch weitere Vorschläge machen konnte, fiel Brunetti etwas ein: »Die Großeltern! Die müßten uns doch sagen können, wo das Kind geblieben ist.«
»Wissen Sie denn, wo wir die Großeltern finden?« fragte Signorina Elettra mit neuerwachtem Interesse.
»Nein, aber die Moros stammen beide aus Venedig, also werden ihre Eltern vermutlich auch hier ansässig sein.«
»Ich will sehen, was ich tun kann«, versetzte sie zurückhaltend. Und dann: »Ach, übrigens, ich habe herausgefunden, was mit dem Mädchen war, das angeblich in San Martino vergewaltigt wurde.«
»Ja? Wie denn?«
»Durch Freunde von früher« war die einzige Erklärung, die sie sich entlocken ließ. Als sie sah, daß Brunettis Neugier geweckt war, fuhr sie fort: »Das Mädchen war die fidanzata von einem der Kadetten, und der schmuggelte sie eines Nachts mit auf sein Zimmer. Irgendwie bekam der Klassenälteste Wind davon und verschaffte sich Zutritt. Das Mädchen fing an zu schreien, als er hereinkam, und dann hat irgendwer die Polizei gerufen. Aber es wurde nie Strafanzeige erstattet, und wie ich dem Protokoll entnehme, bestand dazu vermutlich auch gar kein Anlaß.«
»Verstehe«, sagte Brunetti, ohne zu fragen, wie sie sich so rasch das Vernehmungsprotokoll beschafft hatte.
» Tanto fumo, poco arrosto.« Der Spruch war ihm kaum über die Lippen, da begriff Brunetti, wie frivol er auf sie wirken mußte, und beeilte sich hinzuzufügen: »Aber Gott sei Dank, daß dem Mädchen nichts passiert ist.«
Signorina Elettra zeigte sich völlig unbeeindruckt von seinem frommen Nachsatz und wandte sich mit einem lapidaren »Ja, allerdings« wieder ihrem Computer zu.
19
B runetti telefonierte hinunter in den Bereitschaftsraum und verlangte Pucetti. Doch der war auf Streife und wurde erst am nächsten Morgen zurückerwartet. Als er aufgelegt hatte, sann der Commissario darüber nach, wie lange es wohl dauern würde, bis seine hohe Meinung von Pucettis Intelligenz dem jungen Mann zum Nachteil gereichte. Von seinen Kollegen würde sich wohl kaum einer gegen ihn stellen, nicht einmal die beiden Erzdummköpfe Alvise und Riverre, denn die uniformierten Beamten waren, zumindest nach Brunettis Erfahrung, nicht eifersüchtig aufeinander. Aber vielleicht konnte Vianello, der ihnen in Rang und Alter näherstand, das besser beurteilen.
Einer wie Scarpa hingegen würde Pucetti gewiß bald mit dem gleichen Mißtrauen belauern, mit dem er schon Vianello verfolgt hatte. Auch wenn Vianello jahrelang kein Wort darüber verloren hatte, war es Brunetti nicht verborgen geblieben, daß die beiden einander von Anfang an spinnefeind waren. Gründe dafür gab es mehr als genug: die Abneigung zwischen einem Süd- und einem Norditaliener, zwischen dem alleinstehenden Scarpa und dem so glücklich verheirateten
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