Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Signore. Seine Mutter ist verwitwet, und sie hatte einen Zettel mit seinem Namen und seiner Adresse in der Geldbörse.«
»Und?«
»Er kam sofort her.« Beide konnten sich vorstellen, was das für Moro bedeutet haben mußte, aber keiner sprach es aus.
»Wo ist er jetzt?« fragte Brunetti.
»Noch hier im Krankenhaus.«
»Und was sagen die Ärzte?«
»Ein paar Schürfwunden und Prellungen, aber nichts gebrochen. Das Auto kann sie nur gestreift haben. Aber sie ist zweiundsiebzig, also beschlossen die Ärzte, sie über Nacht zur Beobachtung dazubehalten.« Nach einer Pause fügte Vianello hinzu: »Der Doktor ist übrigens gerade gegangen.«
Es folgte ein längeres Schweigen. Endlich sagte Vianello wie zur Antwort auf Brunettis unausgesprochene Frage:
»Ja, das wäre vielleicht eine gute Idee. Er ist sehr mitgenommen.«
Brunetti ahnte wohl, daß sein instinktiver Entschluß, Moros Schwäche auszunutzen, nicht weniger niederträchtig war als der Eifer, mit dem Vianello ihn darin bestärkte. Beides konnte ihn nicht aufhalten. »Wie lange ist er schon fort?« fragte er.
»Etwa fünf Minuten. Er hat ein Taxi genommen.«
Aus dem hinteren Teil der Wohnung drangen vertraute Geräusche: Paola hantierte im Bad, dann ging sie über den Flur zum Schlafzimmer. Brunettis Phantasie aber kreiste über der Stadt und dem Festland und verfolgte ein einsames Taxi durch die leeren Straßen von Mestre und über den langen Damm, der zum Piazzale Roma führte. Ein Mann stieg aus, beugte sich noch einmal durchs offene Wagenfenster und drückte dem Fahrer einen Geldschein in die Hand, bevor er sich abwandte und auf den Anleger der Linie eins zuschritt. »Ich gehe zu ihm«, sagte Brunetti und legte auf.
Paola schlief schon, als er ins Schlafzimmer schaute. Das Flurlicht ergoß sich über ihre Beine. Rasch schrieb er ihr einen Zettel, wußte dann aber nicht, wohin damit. Endlich lehnte er ihn an den Anrufbeantworter, dessen flackerndes Lämpchen immer noch nach Aufmerksamkeit heischte.
Als Brunetti durch die nächtlich stille Stadt ging, eilte seine Phantasie ihm wieder voraus, aber diesmal beobachtete sie einen Mann in dunklem Anzug und grauem Mantel, der von San Polo her auf die Accademia-Brücke zuschritt. Vor dem Museum bog er ab und strebte den engen calli von Dorsoduro zu. Am Ende des überdachten Steges, der neben der Kirche San Gregorio verlief, überquerte er die Brücke zu der breiten Uferpromenade vor der Salute. Moros Haus, ein Stück weiter rechts, lag im Dunkeln, obwohl alle Läden offenstanden. Brunetti folgte dem Kanal bis zu der kleinen Brücke, über die man auf die andere Seite des Kanals und zu Moros Eingang gelangte. Von hier würde er Moro heimkommen sehen, egal, ob er ein Wassertaxi nahm oder das Vaporetto. Er wandte sich um und blickte über das unbewegte Wasser hinauf zum Kuppelgewirr von San Marco und sah zu den scheckigen Mauern des Palazzo Ducale, dankbar für den Frieden, den er im Angesicht ihrer Schönheit fand. Seltsam, aber offenbar genügte allein der Anblick dieser Harmonie von Farben und Konturen, und schon fühlte er sich besser.
Von weitem hörte er den tuckernden Motor des Vaporettos, dann kam hinter einer Hausmauer der Bug zum Vorschein. Der Motor wurde gedrosselt, und das Boot glitt auf den Anleger zu. Der Matrose warf mit lässiger Präzision das Tau aus und zurrte es mit dem althergebrachten Knoten am Poller fest. Ein paar Leute gingen von Bord, aber Moro war nicht darunter. Mit metallenem Kratzen wurde das Gitter geschlossen, mit elegantem Schwung das Tau gelöst, und schon setzte das Vaporetto seine Fahrt fort.
Zwanzig Minuten später kam das nächste Boot, aber auch diesmal war Moro nicht an Bord. Brunetti glaubte schon, der Doktor sei vielleicht über Nacht in der Wohnung seiner Mutter in Mogliano geblieben, als er von links her Schritte vernahm und Moro aus der engen calle zwischen den Häusern am Ende des campiello auftauchte. Rasch überquerte Brunetti die Brücke und blieb an ihrem Fuß, kurz vor Moros Hauseingang, stehen.
Der Doktor hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und hielt den Kopf tief gesenkt, als müsse er bei jedem Schritt darauf achten, wohin er die Füße setzte. Als er nur noch wenige Meter von Brunetti entfernt war, blieb er stehen und fuhr erst mit der linken, dann mit der rechten Hand in seine Hosentaschen. Beim zweiten Versuch brachte er ein Schlüsselbund zum Vorschein, starrte aber so verständnislos darauf, als wisse er nicht recht, was es sei oder
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