Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
halbwegs über Moros Laufbahn Bescheid wußte, waren die führenden Köpfe aus dem Gesundheitswesen, denen der Moro-Report Korruption und unrechtmäßige Bereicherung vorgeworfen hatte. Brunetti schloß die Augen, ließ den Kopf auf die Sofalehne sinken und versuchte sich zu erinnern, was aus den Männern geworden war, die zur Zeit des Moro-Reports in der Chefetage des venezianischen Gesundheitsamts saßen.
Einer war in einer privaten Anwaltskanzlei verschwunden, der zweite in Pension gegangen, und der dritte hatte zur Zeit einen untergeordneten Posten in der neuen Regierung inne, bei dem es um Verkehrssicherheit ging oder um Hilfsmaßnahmen im Falle von Naturkatastrophen; so genau wußte Brunetti das nicht mehr. Um so lebhafter erinnerte er sich an die Stellungnahme der Regierung zum Moro-Report, die, ungeachtet des Skandals und der öffentlichen Empörung über die dreiste Plünderung der Staatskasse, so unerschütterlich gravitätisch geklungen hatte wie der Todesmarsch aus Händels Saul. Jahre gingen ins Land: Die neuen Kliniken blieben ungebaut, ohne daß die Statistiken korrigiert worden wären, und die Männer, die für den Betrug verantwortlich waren, hatten sich relativ unbehelligt abgesetzt.
In Italien hatten Skandale die gleiche Haltbarkeit wie frischer Fisch: Am dritten Tag waren beide wertlos; der Fisch, weil er zu stinken anfing, und die Skandale, weil sie zu stinken aufhörten. Hätten die Opfer des Moro-Reports sich an seinem Verfasser rächen wollen, so wäre das schon vor Jahren geschehen: Ein um sechs Jahre hinausgezögerter Rachefeldzug würde andere ehrliche Beamte nicht davon abhalten, ungesetzliche Regierungspraktiken anzuprangern.
Nachdem diese Möglichkeit ausschied, wandte Brunetti sich Moros ärztlicher Laufbahn zu und versuchte die Anschlage auf dessen Familie als Racheakt eines enttäuschten Patienten zu deuten. Aber auch den Gedanken verwarf er gleich wieder, ja er glaubte nicht einmal, daß Moros Gegner auf Vergeltung aus waren, denn dann hätten sie ihn persönlich angegriffen. Mit den Anschlägen auf seine Familie aber wollte man ihm drohen. Angenommen, Moro arbeitete an etwas oder hatte etwas herausgefunden, das seinen Widersachern gefährlich werden konnte, und sie wollten mit allen Mitteln die Veröffentlichung eines zweiten Moro-Reports verhindern? Das wäre die Lösung; rätselhaft blieb nur, wieso Moro letzte Nacht zwar einerseits gar nicht versucht hatte, die Existenz seiner namenlosen Feinde zu leugnen, andererseits aber vehement bestritt, daß »die« hinter dem Anschlag auf seine Mutter steckten.
Brunetti trank noch einen Schluck Kaffee, doch der war inzwischen kalt geworden. Erst als er die Tasse abstellte, hörte er das Telefon klingeln und ging an den Apparat im Flur.
»Brunetti«, meldete er sich.
»Ich bin's«, sagte Paola. »Bist du noch im Bett?«
»Nein, ich bin schon lange auf.«
»Ich habe dich in der letzten halben Stunde dreimal angerufen. Wo warst du? Unter der Dusche?«
»Ja«, log Brunetti.
»Schwindelst du?«
»Ja.«
»Was hast du denn gemacht?« fragte Paola ehrlich besorgt.
»Dagesessen und aus dem Fenster geschaut.«
»Nun, es freut mich, daß dein Tag so produktiv begonnen hat. Nur dagesessen und geschaut oder auch nachgedacht?«
»Auch nachgedacht.«
»Worüber?«
»Moro.«
»Und?«
»Und ich glaube, ich bin auf etwas gestoßen, das ich bisher übersehen hatte.«
»Willst du's mir erzählen?« fragte sie, aber er hörte an ihrem Ton, daß sie in Eile war.
»Nein. Erst muß ich es noch ein bißchen besser durchdenken.«
»Dann heute abend?«
»Ja.«
Nach einer kleinen Pause sagte Paola mit einer Stimme wie aus einer brasilianischen Seifenoper: »Übrigens haben wir noch was nachzuholen von letzter Nacht, mein Held.«
Ein wohliger Schauer überlief ihn, als er begriff, was sie meinte. Aber bevor er antworten konnte, hatte Paola schon lachend aufgelegt.
Als der Commissario eine halbe Stunde später die Wohnung verließ, trug er feste Schuhe mit Gummisohlen und hielt einen dunklen Schirm über sich. Letzterer hemmte seinen Schritt und zwang ihn in den schmalen Gassen zu ständigen Ausweichmanövern. Der Regen hatte die Touristenmassen verringert, aber ganz verscheuchen konnte er sie nicht. Wie oft hatte Brunetti sich schon gewünscht, daß er auf einem anderen Weg zur Arbeit gelangen könnte, einem, der ihm den leidigen Zickzackkurs durch die Ruga Rialto erspart hätte. Gleich hinter Sant' Aponal bog er rechts ab und ging hinunter
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