Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Gedanke erinnerte ihn an eine Bemerkung von Anna Comnena über Robert Guiscard: »Sobald ein Mann an die Macht kommt, zeitigt seine Liebe zum Geld die gleichen Eigenschaften wie Wundbrand, denn sobald der sich in einen Körper eingeschlichen hat, ruht er nicht eher, als bis er ganz und gar von ihm Besitz genommen und ihn vergiftet hat.«
Eine alte Frau lag verletzt in Mestre im Krankenhaus, und er mußte sich in einem Kompetenzgerangel mit Pattas Adlatus verzetteln, ja sogar versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen und seine Motive zu ergründen. Brunetti schäumte innerlich, als er nach oben ging, doch bis er in sein Büro kam, hatte er eingesehen, daß sein Zorn gar nicht so sehr gegen Scarpa gerichtet war als vielmehr gegen sich selbst, weil er den Anschlag auf Moros Mutter nicht vorausgesehen hatte. Daß ihm das gar nicht möglich gewesen wäre, spielte für Brunetti dabei kaum eine Rolle; irgendwie hätte er die Gefahr erkennen und etwas tun müssen, um die alte Frau zu beschützen.
Er rief im Krankenhaus an, nannte seinen Dienstgrad und verlangte in dem autoritären Befehlston, den er sich im Umgang mit hirnlosen Bürokraten angewöhnt hatte, mit der Station verbunden zu werden, auf der Signora Moro lag. Es dauerte eine Weile, bis er durchgestellt wurde, aber als er die diensthabende Schwester am Apparat hatte, war sie hilfsbereit und entgegenkommend und erklärte ihm, der Arzt habe Signora Moro geraten, noch bis zum nächsten Tag in stationärer Behandlung zu bleiben, und dann könne sie wieder nach Hause. Nein, sie war nicht ernsthaft verletzt, und man behielt sie eher mit Rücksicht auf ihr Alter als aus medizinischen Gründen einen Tag länger in der Klinik.
Brunetti, der eine so menschliche Handlungsweise irgendwie tröstlich fand, bedankte sich bei der Schwester und rief gleich anschließend die Polizei in Mogliano an. Von dem Beamten, der den Fall bearbeitete, erfuhr er, daß die Fahrerin des Unfallwagens am Morgen aufs Revier gekommen sei und sich gestellt habe. Erst hatte sie in Panik die Flucht ergriffen, aber nach einer schlaflosen Nacht war sie, geplagt von Furcht und Reue, geständig und bereit, für ihre Tat einzustehen.
Als Brunetti den Polizisten fragte, ob er die Frau für glaubwürdig halte, bekam er ein erstauntes »Aber natürlich« zur Antwort, bevor der Mann sagte, er müsse jetzt wieder an die Arbeit, und auflegte.
Also hatte Moro doch recht gehabt, als er behauptete, »die« hätten nichts mit dem Anschlag auf seine Mutter zu tun. Oder vielmehr mit ihrem Unfall, denn auch den Verdacht auf einen »Anschlag« hatte ja erst er, Brunetti, ins Spiel gebracht. Bloß, warum war Moro dann so außer sich geraten? Und vor allem: Woher rührte seine abgrundtiefe Verzweiflung letzte Nacht, nachdem er doch gerade erfahren hatte, daß seine Mutter nicht ernstlich verletzt war?
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D ie Erkenntnis, daß er sich Tenente Scarpa einmal mehr zum Feind gemacht hatte, wäre durchaus Anlaß zur Besorgnis gewesen, doch Brunetti sah es gelassen: So eine unversöhnliche Antipathie wie die zwischen ihnen beiden war ohnehin nicht mehr steigerbar. Leid tat ihm nur, daß wahrscheinlich Pucetti den Ärger würde ausbaden müssen, denn Scarpa war nicht der Mann, der sich offen mit einem Vorgesetzten anlegte. Brunetti fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es oft vorkam, daß jemand im rücksichtslosen Streben nach Macht und Erfolg so blind und taub gegen die wahren Erfordernisse seines Berufs verstieß wie der Tenente. Dabei hatte Paola ihm immer wieder versichert, daß die Grabenkämpfe im Englischen Seminar der Universität bei weitem unbarmherziger waren als irgendein Gemetzel in Beowulf oder einer der besonders blutrünstigen ShakespeareTragödien.
Er wußte, daß man Ehrgeiz zu den natürlichen menschlichen Eigenschaften zählte, und hatte seit vielen Jahren zugesehen, wie verbissen andere ihrer Vorstellung vom Erfolg nachjagten. Aber auch wenn deren Streben gemeinhin als ganz normal angesehen wurde, konnte er nicht umhin, sich über die Leidenschaft und Energie zu wundern, mit der sie ihre Ziele verfolgten. Paola hatte einmal gesagt, in seiner Erbmasse fehle ein entscheidendes Gen, weil er keinen anderen Wunsch kenne als den, glücklich zu sein. Das hatte ihm zu schaffen gemacht, bis sie erklärte, daß just dieses Manko einer der Gründe war, warum sie ihn geheiratet hatte.
Noch ganz in Gedanken, betrat er Signorina Elettras Büro. Als sie aufblickte, sagte er ohne jede Einleitung: »Ich brauchte weitere
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