Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
bin ihre Schwester, Tiziana.«
»Das dachte ich mir. Sie sehen einander sehr ähnlich.«
»Aber sie war früher eine Schönheit«, versetzte Tiziana traurig. Und Brunetti dachte, wenn die vernachlässigte Schönheit dieser jungen Frau ein Maßstab war, dann mußte Luigina in der Tat ein Wunder an Liebreiz gewesen sein.
»Darf ich fragen, was passiert ist?«
»Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr?«
»Ja.«
»Heißt das, daß Sie an die Schweigepflicht gebunden sind?«
»Wenn es sich mit meinen Ermittlungen vereinbaren läßt, ja.« Brunetti sagte ihr nicht, daß es in der Regel in seinem Ermessen lag, was er preisgab und was nicht, aber sie schien mit seiner Antwort zufrieden.
»Ihr Mann hat auf sie geschossen. Und sich dann selbst getötet.« Als Brunetti nichts dazu sagte, fuhr sie fort: »Er wollte erst sie umbringen und dann sich. Aber bei Luigina hat er schlecht gezielt.«
»Warum hat er es getan?«
»Er dachte, sie hätte eine Affäre.«
»Und? Hatte sie?« »Nein.« Brunetti glaubte ihr sofort. »Aber er war immer schon eifersüchtig. Und gewalttätig. Wir hatten sie alle vor dieser Heirat gewarnt, aber sie setzte ihren Kopf durch.«
Nach einer langen Pause sagte sie: »Liebe«, und es klang, als hätte man sie aufgefordert, die Krankheit zu benennen, die das Leben ihrer Schwester zerstört hatte.
»Wie lange ist das her?«
»Sieben Jahre. Giuliano war damals zehn.« Tiziana verschränkte die Arme vor dem Leib und klammerte sich mit den Händen wie schutzsuchend an die Ellbogen.
Der Gedanke erschreckte Brunetti so sehr, daß er ihn aussprach, bevor ihm klar wurde, wie schmerzlich diese Frage für sie sein mußte. »Und wo war Giuliano?«
»Nein, er hat nichts mitbekommen«, antwortete sie.
»Wenigstens das hat er ihm nicht angetan.«
Brunetti hätte gern gewußt, wie gravierend Luiginas Behinderung war, aber aus Angst, sein Interesse könnte als voyeuristische Neugier ausgelegt werden, fragte er nicht danach. Luiginas Verhalten und ihr halb entstelltes Gesicht verrieten auch so, was von ihr geblieben war, und was man ihr geraubt hatte, zeigte sich nur zu deutlich an Tizianas lebhafter Ausstrahlung.
Während sie in den hinteren Teil des Hauses gingen, erkundigte sich Brunetti: »Warum ist Giuliano aus der Schule fort?«
»Er hat gesagt ...«, begann sie, sprach aber nicht weiter, obwohl Brunetti spürte, daß es ihr leid tat, es ihm nicht erklären zu können. »Ich denke, das sollten Sie ihn lieber selbst fragen.«
»War er gern in San Martino?«
»Nein, nie.« Die Antwort kam prompt und heftig.
»Warum ist er dann überhaupt auf die Akademie gegangen? Und vor allem geblieben?«
Sie wandte sich nach ihm um, und er sah trotz des schummrigen Flurlichts, daß in ihren Augen, die er erst für tief dunkel gehalten hatte, bernsteinhelle Sprenkel funkelten.
»Wissen Sie etwas über unsere Familie?«
»Nein, gar nichts«, sagte er und bereute sofort, daß er Signorina Elettra nicht dazu angehalten hatte, noch weiter in das Privatleben der Schüler einzudringen und ihre Geheimnisse aufzudecken. Dann hätte ihn die Situation hier nicht so überrumpelt, und er wüßte besser, wonach er diese junge Frau fragen sollte.
Wieder verschränkte sie die Arme, bevor sie ihn ansah.
»Dann haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen?«
»Nicht, daß ich wüßte.« Es war ihm selbst schleierhaft, wie er einen so spektakulären Fall hatte übersehen können: Für die Presse mußte das doch ein gefundenes Fressen gewesen sein.
»Es geschah, als sie auf dem Marinestützpunkt in Sardinien stationiert waren«, sagte Tiziana, als ob das eine Erklärung wäre. »Und dem Schwiegervater meiner Schwester gelang es, den Skandal abzuwenden.«
»Wer ist ihr Schwiegervater?« fragte Brunetti.
»Ammiraglio Giambattista Ruffo«, antwortete sie.
Brunetti erkannte den Namen sofort: der Mann, dem seine offen zur Schau gestellte monarchistische Gesinnung den Beinamen »der Admiral des Königs« eingetragen hatte. Er war gebürtiger Genueser, und Brunetti kam es so vor, als hätte er schon seit Jahrzehnten von sich reden gemacht. Der Admiral hatte seine politischen Ambitionen für sich behalten, bis er sich in der Marine ganz an die Spitze emporgedient hatte. Erst dann - vor nunmehr gut fünfzehn Jahren - begann er offen für die Wiedereinführung der Monarchie zu werben. Die verzweifelten Versuche des Verteidigungsministeriums, ihn zum Schweigen zu bringen, hatten Ruffo zu kurzlebiger Popularität verholfen, denn der
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