Brunetti 13 - Beweise, daß es böse ist
erschien, aber er erhob keinen Einwand.
Signorina Elettra murmelte etwas von einer Menge Arbeit, die noch auf ihrem Schreibtisch warte, und verließ zusammen mit dem Inspektor das Büro.
Brunetti, der es unfair gefunden hätte, die beiden für seine Recherchen einzuspannen, während er hinter seinem Schreibtisch hocken blieb, griff nach dem Ordner und suchte Namen und Telefonnummer von Signora Battestinis Hausarzt heraus. Sein Anruf wurde auf den Mobilanschluß umgeleitet, wo Dr. Carlotti sich meldete und anbot, Brunetti könne ihn entweder vor oder im Anschluß an die Nachmittagssprechstunde in seinem ambulatorio aufsuchen. Überzeugt, daß es klüger sei, mit dem Dottore zu reden, bevor der sich zwei Stunden die Leidensgeschichte seiner Patienten angehört und sie verarztet hatte, sagte Brunetti, halb vier passe ihm gut, ließ sich noch den Weg zur Praxis beschreiben und legte auf. Bei Signora Battestinis Nichte, deren Nummer er gleich anschließend wählte, nahm niemand ab.
Die wöchentliche Mitarbeiterkonferenz entfiel an diesem Tag dank eines stabilen Hochs. Während der Sommermonate wurden diese Meetings, die Vice-Questore Patta vor einigen Jahren persönlich eingeführt hatte, oft von vornherein abgesagt oder erst verschoben und, je nach Wetterlage, später gestrichen. Bei Sonnenschein entfiel die Sitzung automatisch, damit der Vice-Questore schon vor dem Mittagessen eine Runde schwimmen konnte. Regnete es am Morgen, so wurde die Besprechung anberaumt, bis, was nicht selten geschah, eine unverhoffte Wetterbesserung doch zu ihrer Vertagung führte und eine Polizeibarkasse den ViceQuestore übers Bacino di San Marco zu seiner zweifellos wohlverdienten Erquickung brachte. Für die meisten in der Questura war dieses ständige Hin und Her ebenso rätselhaft wie die Schranktür, die nur aufbekommt, wer weiß, wo man dagegentreten muß. Brunetti und seine beiden Vertrauten aber taten es den Auguren gleich, die auch immer erst das Firmament befragt hatten, bevor sie eine Unternehmung planten oder in Angriff nahmen. Der Commissario fand, sie konnten stolz sein auf die Geschmeidigkeit, mit der es ihnen immer wieder gelang, ihre Terminplanung den Launen des Vice-Questore anzupassen.
Als er zum Mittagessen nach Hause kam, hatte die Familie sich gerade zu Tisch gesetzt, Paola mit jenem hungrig abgespannten Ausdruck, der Brunetti verriet, daß sie wieder einmal einen schlechten Tag an der Uni erwischt hatte. Die Kinder freilich waren viel zu sehr darauf bedacht, den eigenen Hunger zu stillen, als daß ihnen so etwas aufgefallen wäre.
Nach den Gedecken zu urteilen, war keine Vorspeise vorgesehen. Aber ehe Brunetti sich darüber beschweren konnte, erschien Paola mit einer riesigen Schüssel, der so köstliche Dämpfe entstiegen, daß er rasch wieder versöhnt war. Bevor es ihm gelang, das Gericht zu erraten, rief Chiara freudestrahlend: »Oh, mamma, du hast Lammragout gemacht!«
»Gibt's dazu Polenta?« fragte Raffi hoffnungsvoll.
Das Lächeln, das die kulinarische Begeisterung ihrer Kinder auf Paolas Gesicht zauberte, erinnerte Brunetti an eine Vogelmutter, bei der das Tschilpen ihrer schnäbelnden Brut ein genetisch bedingtes Atzungsbedürfnis auslöst. Paolas kühle Replik widersetzte sich dem nämlichen Instinkt nur zum Schein. »Genau wie die sechshundertmal zuvor, die wir Lammragout hatten, Raffi! Ja, es gibt Polenta dazu.« Doch Brunetti, der mehr dem Tonfall als dem ironischen Wortlaut folgte, hörte leicht heraus, wie ihr dabei ums Herz war.
»Wenn es Feigen zum Nachtisch gibt, mamma, dann mache ich den Abwasch«, erbot sich Chiara.
»Du hast eine richtige Krämerseele«, sagte ihre Mutter, stellte die Schüssel auf den Tisch und ging in die Küche, um die Polenta zu holen.
Es gab tatsächlich Feigen und dazu esse, die S-förmigen Plätzchen, die ihnen ein Freund von Paolas Vater immer aus Burano schickte. Nach diesem üppigen Mahl war Brunetti so schläfrig, daß er sich eine Stunde hinlegen mußte.
Als er mit trockenem Mund und verschwitzt von der drückenden Hitze erwachte, spürte er Paola neben sich. Da sie nie Mittagsschlaf zu halten pflegte, wußte er schon, bevor er die Augen aufschlug, daß sie den Kopf in die Kissen gebettet und mit einem Buch vor der Nase daliegen würde. Ein Blick zur Seite bestätigte seine Vermutung.
Er erkannte den Einband und fragte: »Liest du immer noch in Chiaras Katechismus?«
»Ja«, antwortete sie, ohne aufzusehen. »Jeden Tag ein Kapitel, aber heute sagt man nicht
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