Brunetti 14 - Blutige Steine
den Versuch, sie zu provozieren, fand jedoch von beidem keine Spur. Chiaras Ton wirkte vielmehr wie ein Echo des ihren: ruhig und sachlich.
»Und wen bezeichnest du mit ›uns‹, Chiara? Nur die Italiener oder die gesamte weiße Rasse?« forschte sie weiter.
»Nein«, sagte Chiara. »Uns Europäer.«
»Ah, natürlich«, versetzte Paola, hob ihr Glas, drehte zerstreut den Stiel zwischen den Fingern und setzte es, ohne zu trinken, wieder ab. »Und wo, bitte, endet dieses Europa?« fragte sie schließlich.
»Was denn noch, mammà?« seufzte Chiara, die inzwischen auf eine Frage ihres Bruders geantwortet hatte. »Entschuldige, ich hab grade nicht zugehört.«
»Ich frage dich, wo Europas Grenzen verlaufen.«
»Aber das weißt du doch, mammà. Steht ja in allen Büchern.« Und bevor Paola etwas erwidern konnte, fuhr Chiara fort: »Gibt's noch Nachtisch?«
Als junge Mutter hatte Paola, die selbst ohne Geschwister aufgewachsen war und bis dahin keinerlei Erfahrung im Umgang mit kleinen Kindern besaß, alles an Büchern und Ratgebern verschlungen, was zum Thema moderner Erziehung auf dem Markt war. Sie wußte, daß die Fachleute einhellig dagegen waren, ein Kind ernsthaft zu tadeln, bevor man nicht die Gründe für sein Verhalten erforscht und abgewogen hatte. Und selbst wenn all das berücksichtigt war, wurden die Eltern noch einmal dringend vor möglichen Schäden bei der Entwicklung der kindlichen Psyche gewarnt.
»Das ist das Herzloseste und Abscheulichste, was mir an diesem Tisch je untergekommen ist. Und ich schäme mich, ein Kind großgezogen zu haben, das es fertigbringt, so etwas zu sagen«, versetzte die aufgeklärte Mutter.
Raffi, der sich erst eingeklinkt hatte, als Paola diesen ungewohnt harschen Ton anschlug, ließ die Gabel fallen. Chiara blieb, ganz Spiegelbild ihrer Mutter, der Mund offenstehen, und zwar aus ziemlich dem gleichen Grund: Sie war schockiert und fassungslos, daß ein Mensch, der so ungemein wichtig war für ihr Glück und Wohlergehen, etwas derart Grausames zu ihr sagen konnte. Und gleich ihrer Mutter schlug auch Chiara jegliche Diplomatie in den Wind und fragte aufgebracht: »Was soll das denn heißen?«
»Es soll heißen, daß du die vucumprà nicht auf irgendein bloß reduzieren und sie abtun kannst, als ob der Tod eines der Ihren überhaupt nicht zählt.«
Mehr als Paolas Worte wirkte ihre vor Erregung bebende Stimme auf Chiara, und sie sagte abwehrend: »So hab ich's doch nicht gemeint.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst, Chiara, aber gesagt hast du, der Ermordete sei bloß ein vucumprà. Und du müßtest dir schon eine sehr gute Erklärung einfallen lassen, um mich glauben zu machen, daß ein Unterschied besteht zwischen dem, was mit diesem Satz gesagt und was damit gemeint ist.«
Chiara legte das Besteck auf den Teller und fragte: »Darf ich auf mein Zimmer gehen?«
Raffi, der seine Gabel nun reglos in der Hand hielt, blickte verstört von einer zur anderen; betroffen über das, was Chiara gesagt hatte, und fassungslos über die Heftigkeit, mit der seine Mutter darauf reagierte.
»Ja«, antwortete Paola nur.
Chiara stand auf, schob ihren Stuhl unter den Tisch und verließ das Zimmer. Raffi, der den Humor seiner Mutter kannte, sah sie an und wartete auf die erlösende Pointe, die gewiß folgen würde. Doch Paola erhob sich wortlos, stellte Chiaras Teller ins Spülbecken und ging hinüber ins Wohnzimmer.
Raffi aß seinen Radicchio auf, fand sich damit ab, daß es heute abend keinen Nachtisch mehr geben würde, legte Messer und Gabel fein säuberlich nebeneinander auf den Teller und trug ihn zur Spüle. Dann verdrückte auch er sich auf sein Zimmer.
Eine halbe Stunde später kehrte Brunetti nichtsahnend an diesen häuslichen Krisenherd zurück. Wohlig empfangen von köstlichen Düften, die die Wohnung durchzogen, freute er sich auf seine Familie und auf Gespräche, die nichts mit Mord und Totschlag zu tun hatten. Doch als er in die Küche kam, fand er statt Frau und Kindern, die in freudiger Erwartung seiner Heimkehr beim Nachtisch saßen, nur einen fast leeren Tisch und schmutziges Geschirr in der Spüle vor.
Also machte er kehrt und sah im Wohnzimmer nach. Vielleicht, dachte er wider besseres Wissen, kam ja etwas Interessantes im Fernsehen. Paola, die auf dem Sofa lag und las, blickte, als er hereinkam, von ihrem Buch auf und fragte: »Willst du was essen, Guido?«
»Ja, ich glaube schon. Aber zuvor möchte ich ein Glas Wein und von dir erfahren, was los ist.«
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