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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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in der Questura anzurufen und eine weibliche Beamtin anzufordern. Zwar kannte er die Witwe nicht, hatte mit der Schwiegermutter nur einmal gesprochen und war mit Tassini selbst nicht mehr als eine Viertelstunde zusammengewesen; trotzdem betrachtete er es als seine Pflicht, diese Aufgabe selbst zu übernehmen.
    Er erklärte Vianello, was er vorhatte, und bat den Inspektor, noch zu bleiben, um die Arbeiter und, falls es ihm gelänge, auch De Cal zu befragen. Hatte Tassini Feinde gehabt? Wer außer ihm hätte sich nachts noch in der Werkstatt aufhalten können? War Tassini wirklich so ungeschickt gewesen, wie Grassi behauptete?
    Nachdem er mit Vianello verabredet hatte, daß sie sich in der Questura wieder treffen würden, machte Brunetti sich auf den Weg zu Foas Boot, das ihn an der riva erwartete. Foa stand in der Kabine vor dem geöffneten Schaltkasten und umwickelte einen Draht mit Isolierband. Als er Brunetti kommen hörte, sah er auf, nickte zur Begrüßung und schob den Draht an seinen Platz zurück. Dann klappte er den Schaltkasten zu und warf den Motor an.
    »Zum Arsenale-Anleger, bitte«, sagte Brunetti. Er hatte eigentlich auch hinunter in die Kabine gewollt, doch dann spürte er die milde Morgenluft im Gesicht und blieb lieber an Deck. Obwohl er alle widerwärtigen Erinnerungen auszublenden suchte, entging ihm nicht, wie die Brise und, als der Motor auf Touren kam, der Fahrtwind an seiner Jacke, ja an all seinen Kleidungsstücken zerrten und fortbliesen, was immer ihm noch anhaften mochte.
    »Haben wir's eilig, Commissario?« fragte Foa, als die Fondamenta Nuove in Sicht kamen.
    Brunetti hätte ihre Fahrt gern so lange wie möglich ausgedehnt, nur um diese Nachricht nicht überbringen zu müssen. Aber er antwortete mit Ja.
    »Dann werde ich nachfragen, ob wir durchs Arsenale können«, sagte Foa, nahm sein telefonino und wählte eine gespeicherte Nummer. Nach einem kurzen Wortwechsel steckte er das Handy in die Tasche, wendete in scharfem Bogen erst nach links, dann nach rechts und fuhr, unter der Fußgängerbrücke entlang, direkt durchs Zentrum des Arsenale.
    Wie lange war es her, daß die Linie fünf alle zehn Minuten diese Route genommen hatte? Normalerweise hätte Brunetti sich am Anblick der alten Werft, die einst den Aufstieg Venedigs zur Weltmacht beflügelt hatte, erfreut, doch jetzt konnte er an kaum etwas anderes denken als an den reinigenden Wind.
    Foa steuerte einen der Wassertaxiplätze neben dem Arsenale-Anleger an. Brunetti sprang an Land, winkte dem Bootsführer dankend zu, gab ihm aber keine weiteren Anweisungen: Ob Foa zur Questura zurückkehrte, eine Spritztour machte oder fischen ging - Brunetti war es einerlei.
    Auf dem Weg zur Via Garibaldi versagte er sich bei jeder Bar, an der er vorbeikam, den Wunsch, auf einen Kaffee, ein Glas Wasser einzukehren. Es ging schon auf elf Uhr zu, als er bei den Tassinis läutete. »Wer ...«, glaubte er eine Frauenstimme zu vernehmen, die sogleich vom explosionsartigen Knistern der defekten Gegensprechanlage übertönt wurde. »Giorgio?« fragte dieselbe Stimme in hoffnungsvollem Ton.
    Statt zu antworten, klingelte Brunetti wieder, und diesmal sprang die Tür auf.
    Im Treppenhaus hörte er flinke Schritte über sich, und als er die letzte Kehre nahm, stand auf dem Absatz über ihm eine Frau. Sie war größer als ihre Mutter, hatte jedoch die gleichen grünen Augen. Das Haar, das ihr bis über die Schultern fiel, war stark von grauen Strähnen durchzogen, was sie älter machte, als sie war. Sie trug flache Schuhe, einen braunen Rock und eine beigefarbene Strickjacke, die sie der Wärme halber, doch auch wie zum Schutz, vor der Brust zusammenhielt.
    »Was gibt's denn?« fragte sie, als sie den Mann auf der Treppe sah. »Was ist passiert? Was ...?« Ihre Stimme versagte, als ob schon sein Anblick - oder, dachte Brunetti für einen kurzen, entsetzlichen Moment, sein Geruch - alle Hoffnung zunichte mache.
    Bestrebt, keine mitleidige Miene zur Schau zu tragen, nahm Brunetti die letzten Stufen. »Signora Tassini?«
    »Was ist mit ihm?« stammelte sie.
    Hinter ihr erklang eine Frauenstimme, die Brunetti nicht gleich erkannte: »Was ist denn los?« Erst bei dem Satz: »Komm schon rauf, Sonia« erinnerte er sich wieder. Im nächsten Moment hörte man sie noch drängender rufen: »Sonia, so komm doch, Emma weint!«
    Hin und her gerissen zwischen der bedrohlichen Vorahnung, warum Brunetti gekommen war, und dem mahnenden Appell an ihren mütterlichen Instinkt,

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