Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
machte die Frau schließlich kehrt und lief die Treppe hinauf. Doch bevor sie zur Tür gelangte und in der Wohnung verschwand, sah sie sich noch zweimal nach Brunetti um.
    Ihre Mutter fing ihn vor der Tür ab. »Was ist los?« fragte sie in gebieterischem Ton.
    »Es hat einen Unfall gegeben in der fornace.« Brunetti entschied sich für diese Version, obgleich er ebensowenig an einen Unfall glaubte wie an die Wiederkunft Christi.
    Die grünen Augen durchbohrten ihn, und er wunderte sich, wie er die wache Klugheit in ihrem Blick hatte unterschätzen können. »Er ist tot, nicht wahr?« fragte die alte Frau.
    Brunetti nickte. Aus der Wohnung hörte man die Stimme ihrer Tochter, die in einem Gemisch aus Worten und zärtlichen Lauten ihr eigenes Töchterchen besänftigte.
    »Was ist passiert?« fragte die Großmutter mit gedämpfter Stimme.
    »Das wissen wir noch nicht.« Brunetti sah keinen Grund, ihr etwas vorzulügen. »Er ist nachts in der Werkstatt zusammengebrochen und wurde erst heute früh gefunden.« Das war zwar keine Lüge, aber längst nicht die ganze Wahrheit.
    »Wie konnte das geschehen?« fragte sie.
    »Auch das wissen wir noch nicht, Signora. Doch die Obduktion wird uns hoffentlich darüber Aufschluß geben«, sagte Brunetti, so als sei dies ein ganz normaler Vorgang.
    »Maria santissima!« flüsterte sie und zog eine zerdrückte Packung Nazionale aus der Tasche. Brunetti blieb gerade noch Zeit, die in großen Lettern aufgedruckte Todeswarnung zu lesen, bevor die Frau sich eine Zigarette angezündet und das Päckchen wieder eingesteckt hatte. »Gehen Sie schon rein«, sagte sie. »Ich komme nach, wenn ich die aufgeraucht habe.«
    Brunetti ging um sie herum und betrat die Wohnung. Tassinis Frau saß auf dem abgenutzten Sofa und wiegte das greinende Kind in den Armen. Lächelnd beugte sie sich über das kleine Mädchen und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
    Der Junge war nirgends zu sehen, doch aus dem hinteren Teil der Wohnung hörte Brunetti eine Art Singsang.
    Er trat ans Fenster, zog die Gardine zurück und blickte hinüber zu dem Haus auf der anderen Straßenseite. Er sah Ziegel und Fenster und dachte an gar nichts.
    Daß die alte Frau wieder hereingekommen war, merkte er erst, als er ihre Stimme hörte. »Ich glaube, Sie sollten es ihr sagen, Commissario.« Als Brunetti sich umdrehte, saß sie neben ihrer Tochter auf dem Sofa.
    »Es tut mir leid, Signora«, begann er. »Aber ich habe schlechte Nachrichten. Die schlimmsten.« Sonia Tassini hob den Kopf, sagte aber nichts. Sie saß da, schaute ihn an und wartete auf diese schlimmste Nachricht, deren Inhalt sie doch vermutlich schon erraten hatte.
    »Ihr Mann«, begann Brunetti von neuem und wußte nicht, wie er es formulieren sollte. »Ein Kollege hat heute morgen, als er zur Arbeit kam, Ihren Mann gefunden. Er war tot.«
    Bevor er sehen konnte, wie sie es aufnahm, verbarg Sonia ihr Gesicht am Hals des Kindes, das sich inzwischen beruhigt hatte und offenbar gerade eingeschlafen war. Als Signora Tassini wieder aufsah, fragte sie: »Was ist passiert?«
    »Das wissen wir noch nicht, Signora.« Er wußte nicht, wie er die Ärmste trösten sollte, und wünschte, ihre Mutter würde etwas sagen oder tun, aber beide Frauen saßen stumm und reglos.
    Das Kind gluckste im Schlaf, und Sonia legte ihm die Hand auf die Brust. »Er hat's gewußt.« Sie sprach ebenso zu dem Kind wie zu Brunetti.
    »Was wußte er, Signora?«
    »Daß etwas passieren würde.« Nach diesen Worten schaute sie Brunetti erwartungsvoll an.
    »Was hat er Ihnen erzählt, Signora?« Als sie keine Antwort gab, hakte er nach: »Daß ihm etwas zustoßen würde?«
    Sonia schüttelte den Kopf. »Nein, nur daß er bestimmte Dinge ans Licht gebracht habe und das Wissen darum gefährlich sei.« Ihre Mutter nickte bestätigend; offenbar hatte auch sie Tassini über diese Dinge reden hören.
    »Hat er gesagt, worin die Gefahr bestand, Signora? Oder Ihnen anvertraut, was er wußte?« Da beide Frauen eisern schwiegen, forschte Brunetti weiter. »Oder hat er Ihnen verraten, woher die Gefahr drohte?«
    Die alte Frau richtete den Blick auf ihre Tochter: Wieviel von der Last seines Geheimnisses hatte Tassini ihr aufgebürdet? Aber Sonia schüttelte den Kopf. »Nein, er hat mir nichts gesagt. Nur, daß er gewisse Dinge aufgedeckt habe und dadurch in Gefahr sei.«
    Brunetti dachte an die Recherchen, auf die Tassini sich bei ihrem Treffen berufen hatte. »Als ich mit Ihrem Mann sprach, Signora ...«, begann er,

Weitere Kostenlose Bücher