Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
gespannt, ob sie das überraschen würde. Da sie keine Regung zeigte, fuhr er fort: »Ihr Mann erwähnte eine Akte, in der all seine Informationen zusammengetragen seien. Es war von wichtigen Dokumenten die Rede.« Ihr Blick blieb fest auf Brunetti geheftet: Die Akte war jedenfalls keine Überraschung für sie.
»Ich würde diese Dokumente gern einsehen. Vielleicht helfen sie uns herauszufinden, was passiert ist.«
»Giorgio ist tot - das ist passiert!« fuhr Sonias Mutter auf. »Da helfen seine Papiere auch nicht mehr.«
Brunetti versuchte gar nicht erst, ihr zu widersprechen. »Vielleicht könnten sie mir bei meinen Ermittlungen helfen«, sagte er nur.
Signora Tassini wandte sich zu ihrer Mutter und legte ihr das schlafende Mädchen in den Schoß. Dann stand sie auf und ging so selbstverständlich hinaus, als wolle sie nur eben nach dem anderen Kind schauen.
Und wirklich hörte Brunetti sie im hinteren Zimmer ruhig und beschwichtigend auf ihren Sohn einreden. Doch als sie einige Minuten später zurückkam, hielt sie einen großen braunen Umschlag in der Hand. Den reichte sie Brunetti mit den Worten: »Ich glaube, das ist alles, was ich für Sie tun möchte. Und nun bitte ich Sie zu gehen.«
Ohne ein Wort des Dankes an eine der beiden Frauen trat Brunetti vor, nahm den Umschlag entgegen und verließ die Wohnung.
17
S obald er auf der Straße stand, öffnete Brunetti das braune Kuvert. Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte, bestimmt aber mehr als drei mit Zahlen beschriebene Blätter. Auf dem ersten standen ganz oben die Buchstaben vr und dc, letzteres offenkundig die Abkürzung für De Cal. Darunter fanden sich zwei ellenlange Zahlen: 200973962 und 100982915: Geldbeträge ohne Punkt und Komma? Oder vielleicht Bankkonten? Telefonnummern? Auf dem zweiten Blatt standen vier Zahlen, beginnend jeweils mit römischen Ziffern, denen, getrennt durch einen Schrägstrich, arabische folgten. Zuerst tippte Brunetti auf Daten in der Reihenfolge Monat/Tag, aber eine der zweiten Ziffern war höher als 31, womit auch diese Möglichkeit ausschied. Das dritte Blatt wies drei Zahlenpaare auf. Deren erstes lautete 45°27'60'' und 12°20'90''; die übrigen waren, bis auf die letzten Ziffern, fast identisch. Wegen des Gradzeichens hielt Brunetti dieses Blatt zunächst für ein Protokoll der hohen und niederen Temperaturen von einem der Schmelzöfen oder vielleicht auch von allen dreien. Doch nein, dafür waren die Ziffern viel zu niedrig. Bei Kreuzworträtseln hatte Brunetti sich nie hervorgetan, und Denksportaufgaben langweilten ihn. Er war schon auf dem Weg zur Questura, als er am Fuß des Ponte dei Greci plötzlich erschrocken feststellte, daß er ganz die Zeit vergessen hatte. Seine Uhr zeigte halb eins, und er rief sofort Paola an, um ihr zu sagen, daß er nicht vor dem Abend zu Hause sein würde. Sie reagierte mehr auf seinen Ton als auf die Nachricht und bat ihn, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen und wenn möglich nicht zu spät zu kommen.
Brunetti genehmigte sich in der Bar an der Brücke ein Panino und ein Glas Mineralwasser und bestellte, da sein Magen vernehmlich knurrte, noch ein zweites Panino. Als er satt war - nicht zufrieden, aber gesättigt -, setzte er seinen Weg an der riva entlang fort. Die Polizeibarkasse lag vor der Questura vertäut, von Foa war jedoch weit und breit nichts zu sehen.
Der Posten am Eingang meldete, Vianello sei noch nicht zurück. Brunetti trug ihm auf, den Inspektor, sobald er käme, zu ihm zu schicken, und begab sich als erstes in Boccheses Labor.
Der Kriminaltechniker blickte dem Eintretenden entgegen, wandte sich aber gleich wieder der Versuchsanordnung auf seinem Arbeitstisch zu. Dort war mittels zweier Holzkeile die Eisenstange aus De Cals Werkstatt etwa zehn Zentimeter über der Tischplatte aufgebockt.
»Schon was gefunden?« fragte Brunetti und deutete mit dem Kinn nach der Stange.
Bocchese, der gerade eine Schere schliff, sah von seiner Arbeit auf und sagte: »Am Griffende waren haufenweise Fingerspuren des Toten. Darunter habe ich Teilabdrücke sichergestellt, aber unser Mann hat die Stange offenbar so lange in der Hand gehalten, daß seine Spuren alle anderen verwischt oder überlagert haben.«
Brunetti fixierte die Stange, als wolle er mit bloßem Auge irgendein Indiz ausmachen. An der Spitze klebte ein Glasklümpchen, das aussah wie eine Schildkröte: unten flach, oben gewölbt. »Was mag da passiert sein?« Brunetti war klug genug, Bocchese nicht direkt um
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