Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
seine Einschätzung des Tathergangs zu bitten, denn solche Fragen beantwortete Bocchese grundsätzlich nicht: Vielleicht verbot er sich derartige Spekulationen ganz einfach.
    Bocchese deutete mit der Schere auf die vermeintliche Schildkröte und sagte: »Er könnte sich als Glasbläser versucht haben. Der Schmelzofen, vor dem er lag, hatte eine viel höhere Temperatur als die übrigen, weil darin die Glasmasse für den nächsten Tag aufbereitet wurde. Unser Mann war ganz allein in der Werkstatt, also hat er vielleicht auf eigene Faust was ausprobiert. Daß der Glasklumpen hier unten so abgeplattet ist, könnte bedeuten, die Stange ist ihm aus der Hand gefallen.«
    »Sind äußere Einwirkungen denkbar?« fragte Brunetti.
    »Hör zu, Guido, ich kann dir die Beweislage aufzeigen. Wie sie zustande kam, das mußt du schon selber rausfinden.«
    Ohne darauf einzugehen, forschte Brunetti weiter: »Hattest du schon Gelegenheit, dir die Leiche anzusehen?«
    »Der Mann hat eine Schürfung an der Stirn. Könnte er sich beim Sturz zugezogen haben. Möglich, daß er mit dem Kopf gegen die Ofentür geprallt ist.«
    »Irgendwelche Spuren an der Tür?«
    Bocchese nahm ein Blatt des Gazzettino, mit dem er die Tischplatte abgedeckt hatte, zur Hand und teilte es mit sechs zügigen Schnitten in zwei Hälften. Während die eine auf den Tisch flatterte, sagte er: »Die Temperatur im Ofengehäuse betrug die ganze Nacht hindurch fast 1400 Grad. An der Öffnung war sie zwar etwas niedriger, aber immer noch hoch genug, um sämtliche Spuren zu vernichten.«
    »Und am Boden?« fragte Brunetti. »Oder an der Leiche?«
    Bocchese schüttelte den Kopf. »Nichts. Und die Halle war blitzsauber gekehrt.« Er machte sich mit seiner Schere über den Rest der Zeitung her. »Gehörte ja wohl zu seinem Job: ausfegen.«
    »Die Sache schmeckt dir nicht, oder?« fragte Brunetti.
    Bocchese zuckte mit den Schultern. »Ich vermesse und tabellarisiere, Guido. Fürs Gefühlige bist du zuständig.«
    Brunetti quittierte dies mit einer Handbewegung, dankte und wandte sich zum Gehen. Da hörte er hinter sich Bocchese sagen: »Aber du hast recht, es schmeckt mir nicht.«
    Oben in seinem Büro breitete Brunetti die drei Blätter mit Tassinis Notizen auf seinem Schreibtisch aus und brütete, das Kinn in die Hand gestützt, über den rätselhaften Zahlen. Nach zwanzig Minuten stand er auf und trat ans Fenster, doch auch der Perspektivenwechsel brachte ihn der Lösung um keinen Schritt näher.
    Also rief er sich sein Gespräch mit Tassini ins Gedächtnis. Und je länger er darüber nachdachte, desto merkwürdiger wollte ihm Tassinis Betragen erscheinen. Der Mann hatte sehr geheimnisvoll getan mit seinem Wissen - so als müsse er es tunlichst für sich behalten -, zugleich aber durchblicken lassen, daß seine Informationen von großer Tragweite seien. Er lese sehr viel, hatte Tassini gesagt, und daß er seine Entdeckungen aufgezeichnet habe. Große Geister hätten ihm die Augen geöffnet, doch er hatte nicht verraten, für was. Genausowenig wie den Grund dafür, warum De Cal seinen Schwiegersohn um jeden Preis von der fornace fernhalten wollte.
    Tassini hatte behauptet, er werde in Kürze endgültige Beweise vorlegen können - aber Beweise wofür? Nun war der Mann tot, und seine Frau beteuerte, er hätte vor etwas Angst gehabt.
    Brunetti setzte sich wieder hinter den Schreibtisch und starrte die Zahlen an.
    So fand ihn Signorina Elettra, als sie einige Zeit später mit einem einzelnen Blatt Papier in der Hand hereinkam. »Commissario«, rief sie erschrocken, als er sie aus kummervollen Augen ansah, »was ist denn passiert?« Da er nicht antwortete, setzte sie mit leiser Stimme hinzu: »Ich habe von dem armen Mann gehört. Es tut mir so leid.«
    »Er war zu jung zum Sterben«, hörte Brunetti sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen. Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Ich versuche gerade etwas auszutüfteln.« Erst als er ihren verwirrten Blick auffing, konzentrierte er sich auf sie und fragte: »Was gibt's denn?«
    »Ich habe ein bißchen recherchiert und bin auf etwas gestoßen, das Sie interessieren dürfte: hier, das Carabinieri-Protokoll.« Und auf seine verständnislose Miene hin ergänzte sie: »Über einen Auftritt Tassinis.«
    Brunetti bat sie, Platz zu nehmen. Elettra setzte sich, legte das Blatt Papier auf den Schreibtisch und begann: »Dies ist eine Kopie des Protokolls. Viel steht allerdings nicht drin. Aber ich habe mit ein paar Leuten gesprochen, und dabei ist

Weitere Kostenlose Bücher