Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
erklärte er, an Brunetti gerichtet, klappte die Tasche zu, hob sie auf und wandte sich zum Ausgang. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden«, sagte er und ergänzte mit einiger Verzögerung: »Signori.«
»Sie haben den Pullover vergessen«, erwiderte Brunetti und fügte nach einer noch längeren Kunstpause hinzu: »Dottore.«
»Was?« rief Venturi, und seine Stimme klang selbst hier, im Wettstreit mit den prasselnden Öfen, ungewöhnlich laut.
»Der Pullover«, wiederholte Brunetti. »Sie haben vergessen, den Pullover aufzuheben.« Während er das sagte, rückten Bocchese und Vianello ihm rechts und links zur Seite.
Venturi maß die drei mit unsicherem Blick, sah Vianellos schweißglänzendes Gesicht, Boccheses zusammengekniffene Augen und wich einen Schritt zurück. Er bückte sich nach dem Pullover, hob ihn mit spitzen Fingern an einem Ärmel hoch und wollte ihn einfach auf die Werkbank fallen lassen. Doch da verlagerte Vianello drohend sein Gewicht, worauf der junge Mediziner sich vorbeugte und den Pullover über den Stuhl hängte. Dann griff er wieder nach seiner Tasche.
Das Trio rührte sich nicht. Schließlich wich Venturi zur Seite aus und machte einen Bogen um Bocchese. Keiner der drei würdigte seinen Abgang eines Blickes, und so sah auch niemand, wie er sich die Maske vom Gesicht riß und auf den Boden warf.
Bocchese wandte sich an die Fotografen. »Was ist, Jungs, habt ihr alles?«
»Ja, wir sind soweit fertig.«
Brunetti wollte es nicht tun, und er war sicher, daß Bocchese und Vianello ebenso davor zurückschreckten. Aber je früher sie herausfanden, was mit Tassini geschehen war, desto eher konnten sie ... Ja, was? Ihn befragen? Ins Leben zurückrufen?
Doch Brunetti verscheuchte diese Gedanken. »Ihr müßt das nicht machen«, sagte er zu den beiden anderen, als er vortrat und neben dem besudelten Leichnam niederkniete. Es roch stark nach Urin und Exkrementen. Wortlos trat Vianello ihm gegenüber, und Bocchese kniete sich neben ihn. Zu dritt schoben sie ihre Hände unter den Rumpf des Toten. Der Boden war heiß, und Brunettis Hand faßte in etwas Glitschiges. Der Grappa kam ihm hoch.
Langsam drehten sie den Toten auf den Rücken. Sein Gesicht war aufgedunsen, und an der Stirn, gleich unterm Haaransatz, entdeckte Brunetti eine blutige Schürfung. Der linke Arm, der unter dem Rumpf eingeklemmt gewesen war, schlug auf dem Boden auf; ein unangenehmes Geräusch, auch wenn es durch den dicken, hitzeabweisenden Handschuh und den Armschutz des Toten gedämpft wurde. Vianello und Bocchese rappelten sich auf und wankten zum Ausgang. Brunetti, der sich zwingen wollte, die Taschen des Toten zu durchsuchen, warf noch einen Blick auf ihn und ließ den Vorsatz fallen. Draußen fand er Vianello mit dem Rücken an die Mauer gelehnt und ganz grün im Gesicht; Bocchese stand vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, am Rand des kleinen Rasenfleckens.
Sie trugen beide keine Maske mehr. Brunetti streifte die seine ab und sagte mit halbwegs normaler Stimme: »Auf der anderen Seite des Kanals gibt's eine Bar.« Er führte seine Begleiter zum Kanal hinunter, über die Brücke und weiter bis zu Francos Bar. Als sie dort ankamen, hatte Vianellos Gesicht wieder seine gewohnte Farbe angenommen, und Bocchese hielt die Hände in den Taschen vergraben.
Brunetti ließ sich den penetranten Nachgeschmack des Grappas als Warnung dienen und bestellte einen Kamillentee. Nach einem raschen Blickwechsel schlossen Bocchese und Vianello sich ihm an. Sie warteten schweigend, und als der Barmann ihnen die drei Portionen Tee auf die Theke stellte, löffelten sie den Zucker direkt in die Kännchen und zogen mit ihren Tabletts an einen Fenstertisch.
Bocchese brach als erster das Schweigen. »Da kommt so gut wie alles in Frage«, meinte er in Anspielung auf die Todesursache.
Vianello schenkte sich ein, blies ein paarmal in den dampfenden Tee und sagte: »Er ist mit dem Kopf aufgeschlagen.«
»Oder er hat eins auf den Kopf gekriegt«, hielt Brunetti dagegen.
»Er könnte über diese Stange gestolpert sein«, warf Bocchese ein.
Brunetti erinnerte sich an die penible Ordnung, die in der Werkstatt herrschte. »Nur, wenn er sie benutzt hat. Es lag ja auch sonst nichts herum, alles war tadellos aufgeräumt. Außerdem klebte Glaspaste an der Spitze.« Brunetti machte eine Pause. »Wir können also annehmen, daß Tassini an irgendwas gearbeitet hat. Oder gerade damit anfangen wollte.« Ihm fiel ein, was Grassi über
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