Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Arbeitsplatz, wo er Arzneien herstellte, die anderen Menschen helfen und sie wieder gesund machen würden. Er schätzte das geordnete Regiment, in dem Tiegel und Flaschen nach seiner Weisung aufgereiht waren, seinem Willen gehorchend und dem System, das er für das beste hielt. Es war ein schönes Gefühl, den Laborkittel aufzuknöpfen und in der Uhrtasche seiner Weste nach dem Schlüssel für den Giftschrank zu fischen. Er erschien täglich im korrekten Dreiteiler zur Arbeit; das Jackett hängte er in seinem Büro auf einen Bügel, aber die Weste behielt er unter dem Laborkittel an. Pullover im Dienst kamen für ihn nicht in Frage: nur Weste und Krawatte. Wie sollten die Leute erkennen, daß er vom Fach war, un dottore, wenn er sich nicht standesgemäß kleidete?
Die anderen nahmen es nicht so genau. Und es lag nicht mehr in seiner Macht, ihnen die seiner Ansicht nach einzig anständige Kleiderordnung aufzunötigen. Trotzdem war es dem weiblichen Personal nach wie vor nicht gestattet, Röcke zu tragen, die kürzer waren als ihre Apothekerkittel, und er duldete keine Turnschuhe im Dienst. Im Sommer ließ er Sandalen durchgehen, allerdings nur bei den Frauen. Eine Fachkraft mußte sich entsprechend kleiden, wo käme man sonst hin?
Seine Finger glitten an der goldenen Uhrkette entlang, bis er den Schlüssel zum Giftschrank ertastete. Er ging in die Hocke, schloß die Stahltür auf und genoß das erhebende Gefühl, das ihn überkam, als der Schlüssel sich im Schloß drehte: Gab es einen zweiten Apotheker in Venedig, der seine Verantwortung der Kundschaft gegenüber so ernst nahm wie er? Vor ein paar Jahren hatte ein Kollege, den er in seiner Apotheke besuchte, ihn ins Labor eingeladen. Der Raum war leer gewesen, als sie eintraten, und er hatte gesehen, daß die Tür zum Giftschrank offenstand und der Schlüssel steckte. Er hatte all seine Beherrschung aufbieten müssen, um diese Nachlässigkeit nicht zu tadeln und ihre Gefahren aufzuzeigen. Schließlich hätte sich doch jeder X-beliebige Zutritt verschaffen können: ein Kind, das seiner Mutter entwischt war, ein potentieller Dieb, ein Drogensüchtiger. Einfach jeder! Die Folgen waren nicht auszudenken. Gab es da nicht einen Film - oder war es ein Roman? -, in dem eine Frau sich in einer Apotheke mit Arsen vergiftete, das unbeaufsichtigt herumstand? Ob es Arsen gewesen war, wußte er nicht mehr genau, irgendein Gift jedenfalls. Allerdings handelte es sich bei dem Opfer um ein verdorbenes Frauenzimmer, und so geschah es ihr vielleicht ganz recht.
Er nahm die Schwefelsäure aus dem Schrank, richtete sich wieder auf und stellte die Flasche auf die Arbeitstheke, wo er sie zur Sicherheit und damit nichts passieren konnte, bis hart an die Wand zurückschob. Ebenso verfuhr er mit anderen Glasbehältern, die er alle ganz weit hinten aufreihte und so ausrichtete, daß ihre Etiketten nach vorn zeigten und gut lesbar waren. Die vier kleinen Fläschchen mit Arsen, Nitroglyzerin, Belladonna und Chloroform kamen, jeweils zu zweit, rechts und links neben der Säure zu stehen, und er achtete darauf, daß das Totenkopfemblem auf den Schildchen sichtbar war. Die Tür zum Labor war wie üblich geschlossen: Die Angestellten wußten, daß sie anklopfen und warten mußten, bis er sie hereinbat. Auch das gefiel ihm.
Das Rezept lag auf dem Tisch. Signora Basso litt seit Jahren unter Magenbeschwerden, und er hatte diese Arznei schon mindestens achtmal angerührt, weshalb er das Rezept eigentlich gar nicht mehr brauchte. Aber ein echter Fachmann war in solchen Dingen nie leichtfertig, erst recht nicht in einem so ernsten Fall. Ja, die Dosis war gleichgeblieben: Die Salzsäure eins zu zwei mit Pepsin vermischen, zwanzig Gramm Zucker hinzugeben und die Tinktur mit zweihundertvierzig Gramm Wasser auffüllen. Was von Rezept zu Rezept variieren konnte, war die Anzahl der Tropfen, die Dottor Prina seiner Patientin verordnete, und die richtete sich nach den Laborwerten der Signora. Er war verantwortlich für die gleichbleibende Konsistenz der Lösung. Nur so konnte Signora Bassos Mangel an gastrischen Säften ausgeglichen werden.
Sie war seit Jahren leidend, die Ärmste, und Dottor Prina sagte, es liege bei ihr in der Familie. Die bedauernswerte Frau verdiente all seine Hilfe und Anteilnahme, und das nicht nur, weil sie wie er der Kirchengemeinde von Santo Stefano angehörte und Mitglied in der Rosenkranzgesellschaft seiner Mutter war. Sie tat ihre Pflicht und trug ihr Kreuz, ohne zu klagen, ganz
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