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Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Titel: Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Egidio ausrichten, daß er sein Rezept erneuern muß?‹ Und wenn dabei irgend etwas Peinliches oder Schmachvolles ans Licht kommt, nun, dann war er nur der gewissenhafte Familienapotheker, der zu helfen versucht hat und sich um das Wohl der Patienten sorgt, nicht wahr?«
    Paola überlegte kurz, dann wandte sie sich ihm zu und legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht nur das, auch er selber könnte sich in dieser Rolle sehen. Falls ihn jemand zur Rede stellte, könnte er behaupten - sowohl den anderen als auch sich selbst gegenüber -, er sei einfach übereifrig gewesen.«
    »Wahrscheinlich, ja.«
    »Mieser kleiner Scheißkerl.«
    »Die meisten Moralisten sind so«, entgegnete Brunetti resigniert.
    »Kannst du irgendwas dagegen tun, besser gesagt, gegen ihn?« fragte Paola.
    »Ich glaube kaum«, antwortete Brunetti. »So gemein und verwerflich das Ganze auch ist, belangen kann man Franchi höchstens wegen illegaler Einsichtnahme in die Krankenakten. Was er aus seiner Warte garantiert damit rechtfertigen würde, daß er nur im Interesse seiner Kunden gehandelt habe. Und Marcolini hat nur seine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt, nicht wahr? Ebenso wie seine Tochter, vermutlich.« Brunetti ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen und fuhr fort: »Nicht einmal der Überfall der Carabinieri auf Pedrolli war rechtswidrig. Sie hatten eine richterliche Anordnung für die in dieser Nacht geplanten Festnahmen. Sie haben geklingelt, aber die Pedrollis haben sie nicht gehört.
    Und Pedrolli gibt zu, daß er den Carabiniere zuerst angegriffen hat.«
    »All dieser Kummer, all dieses Leid«, seufzte Paola.
    Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Endlich stand Brunetti auf, ging hinüber ins Wohnzimmer und kam wenig später mit den Rußlandbriefen des Marquis de Custine zurück. Während seiner kurzen Abwesenheit hatte Paola sich, gleich dem Wasser, das immer den tiefsten Punkt sucht, mit einem Roman auf dem Sofa ausgestreckt. Doch jetzt zog sie die Beine an und machte ihm Platz.
    »Immer noch bei den Russen?« fragte sie und deutete auf das Buch in seiner Hand.
    Er nickte, setzte sich in die Sofaecke und las dort weiter, wo er den Abend zuvor aufgehört hatte. Paola betrachtete einen Moment lang sein Profil, dann streckte sie die Beine aus, schob die Füße, unter seinem Buch hindurch, auf seinen Schoß und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.
    Am nächsten Tag verschlechterte sich das Wetter durch einen plötzlichen Temperatursturz, gefolgt von sintflutartigen Regenfällen. Beides säuberte die Straßen, zunächst von den Touristen, dann von verbliebenem Unrat. Einige Stunden später kündigten die Sirenen das erste acqua alta dieses Herbstes an, verschärft durch eine heftige Bora, die von Nordosten hereinwehte.
    Ausgerüstet mit Schirm, Hut, Stiefeln und Regenmantel erschien ein mißmutiger Brunetti in der Questura, wo er nach eigener Schätzung una brutta figura abgab, als er am Eingang stehenblieb und sich schüttelte wie ein Hund sein nasses Fell. Hinterher blickte er sich um und sah, daß das Wasser mindestens einen Meter weit in jede Richtung gespritzt hatte. Schweren Schrittes und ohne nach rechts oder links zu schauen, stieg er die Treppen zu seinem Büro hinauf.
    Oben angekommen, klemmte er den Schirm hinter die Tür. Sollte er ruhig auf den Holzfußboden tropfen: Dort in der Ecke würde es niemand sehen. Den Regenmantel hängte er in den armadio und warf seinen durchgeweichten Hut auf die Ablage. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen und zog die Stiefel aus. Als er endlich hinter seinem Schreibtisch saß, war er verschwitzt und seine Laune auf dem Nullpunkt.
    Das Telefon klingelte. »Sì«, meldete er sich unwirsch.
    »Soll ich auflegen und nach der Kaffeepause noch mal anrufen?« fragte Bocchese.
    »Das würde auch nichts ändern. Außerdem würde ich auf dem Weg zur Bar vermutlich vom acqua alta weggeschwemmt.«
    »Ist es so schlimm?« erkundigte sich der Kriminaltechniker. »Ich bin heute schon sehr zeitig gekommen, da war's noch halbwegs erträglich.«
    »In einer Stunde soll der Höchststand erreicht sein. Aber es ist schlimm, ja.«
    »Glaubst du, daß Touristen ertrinken werden?«
    »Führe mich nicht in Versuchung, Bocchese. Du weißt doch, daß unsere Telefone abgehört werden. Könnte gut sein, daß man unsere Lästereien der Tourismuszentrale meldet.« Ob es an Boccheses ungewohnter Gesprächigkeit lag oder an der Vorstellung von ertrinkenden Touristen, jedenfalls besserte Brunettis

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