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Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Titel: Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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im Gegensatz zu diesem Vittorio Priante, dem mondgesichtigen, plattfüßigen Vielfraß. Für den es, wann immer er in die Apotheke kam, nur ein Thema gab: Essen, Essen und nochmals Essen. Zur Abwechslung ließ er sich dann vielleicht über Wein und Grappa aus, bloß um danach gleich wieder vom Essen zu schwärmen. Nur mit falschen Angaben konnte er einen Arzt dazu gebracht haben, ihm die Säurelösung zur Linderung seiner Verdauungsbeschwerden zu verschreiben; und das machte aus dem Vielfraß obendrein noch einen Lügner.
    Doch solchen Anforderungen mußte man sich eben stellen, wenn man einen Beruf wie den seinen ernst nahm. Es wäre ein leichtes, die Lösung zu verändern, sie stärker oder schwächer zu mischen, aber damit würde er gegen seine hochheilige Pflicht verstoßen. So sehr Signor Priante es auch verdient hätte, für seine Ausschweifungen und seine Verlogenheit bestraft zu werden, die Entscheidung darüber lag in Gottes Hand, nicht in der seinen. Von ihm wurden alle Patienten so optimal versorgt, wie er es bei seiner Vereidigung gelobt hatte. Niemals würde er sich durch seine persönlichen Überzeugungen davon abbringen lassen; alles andere hieße unprofessionell handeln, und das war undenkbar. Trotzdem täte es Signor Priante gut, sich ein Beispiel an ihm und seinem gemäßigten Appetit zu nehmen. Dazu hatte ihn seine Mutter erzogen, wie sie ihn überhaupt Mäßigung in allen Dingen gelehrt hatte. Heute war Dienstag, da gab es zum Abendessen selbstgemachte Gnocchi, anschließend eine Scheibe gegrillte Hühnerbrust und zum Nachtisch eine Birne. Nur schlichte Hausmannskost und dazu ein Glas Wein: weiß.
    Trotzdem, seine Kunden mochten noch so ausschweifend leben und über die Stränge schlagen, er käme nie auf die Idee, sich bei ihrer Betreuung von seinen moralischen oder sonstigen Maßstäben leiten zu lassen. Nicht einmal bei jemandem wie Signora Adamis Tochter: erst fünfzehn und schon zweimal wegen Geschlechtskrankheit in Behandlung. Selbst in so einem Fall hielt er sich getreulich an seinen Eid; alles andere wäre unprofessionell und obendrein eine Sünde, beides Horrorvorstellungen für ihn. Gleichwohl hatte die Mutter des Mädchens ein Recht darauf, zu erfahren, welch frevelhafte Pfade ihre Tochter eingeschlagen hatte und in welchen Abgrund die führten. Eine Mutter hatte die Pflicht, über die Keuschheit ihres Kindes zu wachen: An diesem Dogma hatte er nie gezweifelt. Folgerichtig war er gehalten, Signora Adami über die Gefahren aufzuklären, die ihrer Tochter drohten: Das war seine moralische Verantwortung, die Vorrang hatte vor seinen beruflichen Pflichten.
    Wie anders dagegen Gabetti, dessen unersättliche Gier Schande über ihren gesamten Berufsstand brachte. Wie konnte der Mann so etwas nur tun? Nicht allein seine Befugnisse, sondern auch das Vertrauen, welches das gesamte medizinische System in ihn setzte, hatte er mißbraucht, bloß um sich mit gefälschten Arztterminen zu bereichern. Und wie empörend, daß Mediziner, hochqualifizierte Fachärzte, sich an diesem Schwindel beteiligt hatten. Der Gazzettino hatte heute morgen groß auf der Titelseite darüber berichtet und sogar ein Foto von Gabettis Apotheke abgedruckt. Was würden die Leute künftig von den Pharmazeuten halten, wenn einer von ihnen sich zu solch kriminellen Machenschaften hinreißen ließ? Gegen die das Gesetz wieder einmal machtlos war. Gabetti war zu alt für eine Haftstrafe, und alles würde diskret und im stillen beigelegt werden. Eine lächerliche Geldbuße, vielleicht Berufsverbot, aber wirklich bestrafen würde man ihn nicht. Dabei hatten Verbrechen wie dieses, ja eigentlich alle Vergehen, doch ihre gerechte Strafe verdient.
    Er trat an eins der Hängeschränkchen und wählte aus dem Satz Mischgefäße das mittlere, in dem er Rezepte über 250 Kubikzentimeter anzurühren pflegte. Aus einem Unterschrank nahm er eine leere braune Arzneiflasche und stellte sie auf die Arbeitstheke. Dann langte er wieder nach oben, fischte ein Paar Gummihandschuhe aus der Packung, streifte sie über und holte nun die Salzsäure aus dem Giftschrank. Er stellte die Flasche vor sich auf die Theke, schraubte den Glasstöpsel ab und legte ihn in ein eigens dafür bereitgestelltes flaches Glasschälchen.
    In der Chemie ist nichts dem Zufall überlassen, dachte er: Wie die ganze Schöpfung folgt auch sie den Geboten, die Gott ihr auferlegt hat. Diesen Geboten zu gehorchen bedeutet eine kleine Teilhabe an der Macht Gottes über unsere Welt.

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