Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
wurden, waren sie jeder männlichen Begehrlichkeit nackt und wehrlos ausgeliefert.
Wie gebannt wanderte sein Blick nach links und fiel auf eine Reihe grellbunter Titelseiten, auf denen jeweils eine barbusige Frau in unterwürfiger Haltung posierte: mal mit Riemen, mal mit Stricken oder Ketten gefesselt. Manche schauten ängstlich aus, andere glücklich; alle wirkten erregt.
Brunetti wandte sich ab und sah hinüber zum Palazzo Dolfin. »Sie hat recht«, murmelte er vor sich hin.
»Wollen Sie den ganzen Tag da rumlungern und Selbstgespräche führen?« fragte eine laute, zornige Stimme hinter ihm. Er löste seinen Blick von der prächtigen Fassade und drehte sich um. Vor ihm, kaum einen Meter entfernt, stand der Zeitungsverkäufer. Mit puterrotem Gesicht wiederholte er: »Wollen Sie den ganzen Tag hier stehen? Was kommt als nächstes? Versenken Sie Ihre Griffel in den Taschen?«
Brunetti hob die Hände, als wolle er sich verteidigen. Er setzte zu einer Erklärung an, doch dann ließ er wortlos die Hände sinken, kehrte dem Platz den Rücken und machte sich auf den Heimweg.
Haustiere, so hatte er gehört, erwarteten ihre Herrchen, wenn die von der Arbeit nach Hause kamen, oft schon an der Tür. Angeblich hatten die Tiere einen sechsten Sinn, der ihnen die Nähe ihrer Zweibeiner verriet. Als Brunetti in seinem Stockwerk angelangt war und nach den Schlüsseln kramte, ging die Tür auf, und Paola stand vor ihm. Seine Freude hätte nicht größer sein können.
»Schlechten Tag gehabt?« fragte sie.
»Woher weißt du das?«
»Ich hab dich die Treppe raufkommen hören, und deine Schritte klangen wie die eines sehr müden Mannes. Also dachte ich, vielleicht hilft es, wenn ich dir die Tür aufmache und dir sage, wie glücklich es mich macht, daß du hier bist.«
»Weißt du, mit der Arsch-und-Titten-Schau in den Illustrierten, da hattest du wirklich recht«, platzte er heraus.
Paola legte den Kopf schief und musterte ihn. »Komm rein, Guido. Mir scheint, du kannst ein Glas Wein vertragen.«
Er lächelte. »Ich kapituliere vor dir in einer Sache, über die wir jahrelang gestritten haben, und alles, was dir dazu einfällt, ist, mir ein Glas Wein anzubieten?«
»Wieso, was hättest du denn lieber gehabt?«
»Wie wär's mit ein bißchen Arsch und Titten?« meinte er und schloß sie in die Arme.
Nach dem Abendessen folgte er Paola in ihr Arbeitszimmer. Bei Tisch hatte er sich mit dem Wein zurückgehalten und wünschte sich nun nichts weiter, als hier zu sitzen, mit ihr zu reden und ihre Meinung zu etwas zu hören, wofür er bislang keinen Namen hatte: Das Pedrolli-Fiasko traf es vielleicht noch am ehesten.
»Der Apotheker vom Campo Sant'Angelo?« fragte Paola, als Brunetti mit seiner Geschichte zu Ende war, schwankend zwischen der Hoffnung, sie chronologisch, und der Befürchtung, sie wirr und unzusammenhängend vorgetragen zu haben.
Er saß neben ihr und hatte die Arme über der Brust verschränkt. »Du kennst ihn?«
»Nein, seine Apotheke liegt nicht auf meinem Weg. Außerdem ist das kein Platz, der zum Verweilen einlädt, oder? Man überquert ihn nur auf dem Weg zur Accademia oder zum Rialto. Ich hab zum Beispiel noch nie eins von diesen Baumwollhemden in dem Laden an der Brücke gekauft.«
Brunetti ließ auf seinem inneren Stadtplan den campo Revue passieren, erst von der Brücke, dann von der Calle della Mandola her. Ein Restaurant, in dem er nie gegessen hatte, eine Kunstgalerie, das unvermeidliche Immobilienbüro, der Kiosk mit dem schokoladenbraunen Labrador.
Paola unterbrach seine geographischen Betrachtungen mit der Frage: »Traust du ihm das zu? Daß er vertrauliche Auskünfte über seine Kunden weitergibt?«
»Früher glaubte ich, das, wozu Menschen imstande sind, hätte irgendwo seine Grenzen«, antwortete Brunetti. »Die Hoffnung habe ich nicht mehr. Wenn der Anreiz stimmt, ist womöglich jeder von uns zu allem fähig.« Er lauschte seinen Worten nach, erkannte, wie stark sie auf die Ereignisse dieses einen Tages reagierten, und setzte hastig hinzu: »Nein, das stimmt so nicht, oder?«
»Ich will's nicht hoffen«, sagte Paola. »Aber um auf diesen Apotheker zurückzukommen: Unterliegt der denn nicht der Schweigepflicht, so ähnlich wie ein Arzt?«
»Ich glaube schon. Doch dieser Franchi ist bestimmt klug genug, seine Indiskretionen zu bemänteln. Er braucht ja bloß so zu tun, als wolle er sich nach jemandes Befinden erkundigen: »›Ist Daniela schon aus der Klinik zurück?‹ - ›Würden Sie
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