Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Titel: Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
Brunetti glaubte mit anzusehen, wie sie sich wieder in ihr wahres Ich zurückverwandelte; da sie aber eine so schillernde Persönlichkeit besaß, war er sich nicht ganz sicher.
    »Nun?« erkundigte sich Brunetti.
    »Nein, noch nicht«, wehrte sie ab. »Ich bin noch ganz erschöpft vom vielen Weinen.«
    »Wie haben Sie das eigentlich hingekriegt?«
    »Was? Die Tränen?«
    »Ja.« In über zehn Jahren hatte er sie nur einmal weinen sehen, und da hatte sie echte Tränen vergossen. Viele der Geschichten um Heimtücke und menschliches Leid, die in der Questura ans Licht kamen, hätten einen Stein erweichen können, aber sie hatte stets professionell Distanz gewahrt, auch dann, wenn die anderen - der hoffnungslos prosaische Alvise eingeschlossen - spürbar betroffen waren.
    »Ich habe an die masegni gedacht«, sagte sie und lächelte zaghaft.
    Sonderbare Reaktionen war er von ihr zwar gewohnt, aber darauf, daß der Gedanke an alte Pflastersteine sie zu Tränen rühren könnte, war er denn doch nicht gefaßt. Vor lauter Verblüffung vergaß er Dottor Calamandri fürs erste. »Verzeihen Sie, aber wieso weinen Sie, wenn Sie an die masegni denken?«
    »Weil ich Venezianerin bin«, lautete die wenig hilfreiche Antwort.
    In dem Moment kam der Schaffner vorbei. Erst als er ihre Fahrkarten kontrolliert und sich entfernt hatte, nahm Brunetti das Gespräch wieder auf: »Könnten Sie mir das erklären?«
    »Na ja, sie sind verschwunden. Ist Ihnen das etwa nicht aufgefallen?« fragte sie.
    Wohin sollten Pflastersteine verschwinden? grübelte Brunetti. Und wie? Vielleicht, daß die Aufregung der letzten Stunde ...
    »Bei der Straßensanierung«, ergänzte sie und zerstreute Brunettis aufkeimende Befürchtungen. »Als man, zum Schutz gegen das Hochwasser, die Bürgersteige angehoben hat.« Ihre spöttisch erhobenen Augenbrauen verrieten, was sie von dieser Maßnahme hielt. »Dabei hat man die masegni, die seit Jahrhunderten als Straßenbelag dienten, alle ausgegraben.« Jetzt fiel es Brunetti wieder ein: Monatelang hatte er zugesehen, wie Bauarbeiter campi und calli aufrissen, Rohr- und Telefonleitungen verlegten oder erneuerten, und wie dann alles wieder zugeschüttet wurde.
    »Und wodurch hat man sie ersetzt?« höhnte sie.
    Brunetti, der auf rhetorische Fragen grundsätzlich keine Antwort gab, um diese Unsitte nicht zu unterstützen, schwieg auch diesmal.
    »Durch lauter maschinell behauene, akkurat rechteckige Steine: jeder ein anschauliches Beispiel dafür, wie perfekt vier rechte Winkel sein können.«
    In der Tat hatte Brunetti sich seinerzeit darüber gewundert, wie glatt die neuen Pflastersteine sich einfügten, ganz im Gegensatz zu den alten mit ihren unsauberen Kanten und holprigen Oberflächen.
    »Und die alten masegni, wo mögen die wohl hingekommen sein?« Signorina Elettra reckte den rechten Zeigefinger in die Luft, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen. Als Brunetti ihr trotzdem die Antwort schuldig blieb, fuhr sie fort: »Freunde von mir haben sie noch einmal gesehen, sauber gestapelt auf einem Gelände in Marghera.« Sie lächelte bitter. »Sorgsam mit Stahldraht verschnürt, wie Frachtgut, fertig zum Verladen. Meine Freunde haben sie sogar fotografiert. Und man munkelt von einer Piazza irgendwo in Japan, auf der sie angeblich verbaut wurden.«
    Brunetti war sichtlich verwirrt. »Japan?« wiederholte er.
    »Das sind bloß Gerüchte, Commissario«, entgegnete sie rasch. »Ich selber habe lediglich die Fotos gesehen, es kann sich also auch um eine dieser globalen Legenden handeln. Beweise gibt es jedenfalls keine - abgesehen davon, daß sie zu Beginn der Sanierungsarbeiten noch da waren, Tausende von uralten Steinen, die jetzt spurlos verschwunden sind. Falls sie sich also nicht in Lemminge verwandelt haben und eines Nachts, als keiner hinsah, in die Lagune gesprungen sind, dann hat jemand sie mitgenommen und nicht zurückgebracht.«
    Brunetti stellte eifrig Berechnungen an und versuchte zu überschlagen, um welche Größenordnungen es hier ging. Bestimmt wäre man auf etliche Schiffsladungen und LKW-Fuhren gekommen. Das bedeutete einen enormen logistischen Aufwand, der sich nicht geheimhalten ließ, ganz zu schweigen von den gigantischen Transportkosten. Wer hätte ein solches Projekt durchführen können? Und vor allem: wozu?
    Als hätte er seine Fragen laut formuliert, fiel Signorina Elettra ein: »Um die masegni zu verscherbeln, Commissario. Auf Kosten der Stadt hat man sie ausgegraben und abtransportiert -

Weitere Kostenlose Bücher