Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
das Geschrei übertönend.
Brunetti zeigte ihr seinen Dienstausweis und sagte: »Ich hätte gern Dottor Pedrolli gesprochen.«
»Der ist bei einem Patienten«, entgegnete sie scharf. »Und überhaupt, habt ihr ihm nicht schon genug angetan?«
Brunetti ließ sich nicht beirren. »Wann ist er denn frei?« fragte er.
»Weiß ich nicht.«
»Ist er hier?«
»Ja, auf 216.«
»Dann warte ich, ja?«
Unschlüssig, was da zu tun sei, machte die Schwester schließlich kehrt und ließ Brunetti stehen. Erst als sie sich entfernt hatte, fiel ihm auf, daß das Kindergebrüll verstummt war, und sein verkrampftes Herz schlug wieder ruhiger.
Nach einer Weile kam ein bärtiger Mann im weißen Kittel aus einem Zimmer auf halber Höhe des Flurs und wandte sich in Brunettis Richtung. Wären sie sich auf der Straße begegnet, hätte Brunetti den Arzt nicht wiedererkannt. Gustavo Pedrolli war größer, als er in jener Nacht im Krankenbett gewirkt hatte, und seine Gesichtsverletzung war so gut wie verheilt.
»Dottor Pedrolli?« fragte Brunetti, als der Bärtige herangekommen war.
Der Arzt schrak zusammen und hob den Kopf. »Ja?«
»Ich bin Commissario Guido Brunetti«, sagte der Kommissar und streckte die Hand aus. »Ich habe Sie besucht, als Sie im Krankenhaus waren.« Lächelnd setzte er hinzu: »Als Patient, meine ich.«
Pedrolli ergriff die dargebotene Hand. »Ja, ich erinnere mich an Ihr Gesicht, aber sonst habe ich leider nicht viel behalten. Sie waren wohl da, als ich noch nicht wieder sprechen konnte. Tut mir leid.« Sein Lächeln wirkte scheu, fast verschämt. Seine Stimme, die Brunetti zum ersten Mal hörte, war tief und klangvoll, ein angenehmer Bariton.
»Hätten Sie einen Moment Zeit für mich, Dottore?« fragte Brunetti.
Pedrolli maß ihn mit ruhig festem, eher beiläufigem Blick. »Natürlich«, antwortete er und führte Brunetti den Flur entlang zu einer der letzten Türen auf der linken Seite. Der Raum, den sie betraten, war spärlich möbliert: ein Schreibtisch mit Computer und ein paar Stühle davor, an einer Wand Regale mit medizinischen Fachbüchern und -zeitschriften. Durchs Fenster hinter dem Schreibtisch blickte man auf jenen windschiefen Baum, der Brunetti schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen war.
»Hier sind wir einigermaßen ungestört.« Mit diesen Worten rückte Pedrolli dem Kommissar einen Stuhl zurecht und nahm ihm gegenüber Platz. »Was möchten Sie denn wissen?« fragte er.
»Wir sind bei unseren Ermittlungen auf Ihren Namen gestoßen, Dottore«, begann Brunetti.
Unwillkürlich hob Pedrolli die Hand und tastete nach seinem linken Ohr. »Was ist denn das für eine Untertreibung?« fragte er. Sich dazu ein Lächeln abzuringen kostete ihn anscheinend einige Mühe.
Brunetti lächelte zurück, doch dann fuhr er fort: »Das hier hat überhaupt nichts mit der Sache vom letzten Mal zu tun, Dottore.«
Pedrolli musterte ihn scharf, wandte den Blick aber gleich wieder ab.
»Die Ermittlungen damals waren - und sind - in den Händen der Carabinieri. Ich möchte Sie zu einem Fall befragen, den mein Kommissariat bearbeitet.«
»Also die Polizei?«
»Ganz recht, Dottore.«
»Und um was für einen Fall handelt es sich?« fragte Pedrolli mit mehr als einem Anflug von Ironie in der Stimme.
»Also im Rahmen einer Untersuchung, die mit jener Razzia in keinerlei Zusammenhang steht, ist auch Ihr Name aufgetaucht. Und dazu hätte ich gern ein paar Auskünfte von Ihnen.«
»Verstehe«, sagte Pedrolli. »Aber könnten Sie vielleicht etwas deutlicher werden?«
»Es geht um angebliche Betrügereien hier in der Klinik«, erklärte Brunetti, der sich entschieden hatte, die mutmaßliche Erpressung Pedrollis zunächst einmal zurückzustellen. Der Arzt entspannte sich kaum merklich.
»Was denn für Betrügereien?«
»Scheinkonsultationen.« Brunetti sah, wie Pedrollis Augen schmal wurden, und fuhr fort: »Offenbar gibt es an dieser Klinik Ärzte, die mit angeblichen Patienten Termine vereinbaren, wohl wissend, daß diese niemals wahrgenommen werden. Die Vermittlung erfolgt in der Regel über Apotheken, und der Krankenkasse werden Untersuchungen in Rechnung gestellt, die gar nicht stattgefunden haben. In mindestens drei Fällen waren die genannten Patienten bereits verstorben.«
Pedrolli nickte bejahend und preßte die Lippen zusammen. »Es wäre gelogen, wenn ich sagte, daß ich davon noch nie gehört hätte, Commissario. Aber auf dieser Station kommt so was nicht vor. Dafür sorgen mein Oberarzt und
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