Brunetti 18 - Schöner Schein
Mannes, der die Zurückweisung seiner Familie fürchtete, der Gesichtsausdruck alter Menschen, die sich ängstigten, nicht mehr geliebt zu werden. Das Bild jenes trostlosen Areals in Marghera tauchte aus seiner Erinnerung auf.
»Sta bene, Signore?«, fragte ein junger Mann, der neben ihm stehen geblieben war.
Brunetti sah ihn an und lächelte mühsam. »Ja, vielen Dank«, sagte er. »Ich habe nur über etwas nachgedacht.«
Der Junge trug einen knallroten Skiparka, die mit Pelz gesäumte Kapuze umrandete sein Gesicht, das auf einmal leicht unscharf wurde, und Brunetti fragte sich, ob das ein Anzeichen für eine nahende Ohnmacht war. Er blickte über das Wasser hinaus nach der anderen Seite des Canal Grande, und auch dort war alles verschwommen. Er legte die andere Hand aufs Geländer, blinzelte in der Hoffnung, einen klaren Blick zu bekommen, blinzelte noch einmal.
»Schnee«, sagte er und wandte sich lächelnd wieder dem Jungen zu.
Der sah ihn noch einmal lange an, dann setzte er seinen Weg über die Brücke fort, durch die Tore der Universität.
Am Scheitelpunkt der Brücke, wo es deutlich kühler war, blieb der Schnee auf dem Pflaster liegen. Brunetti behielt eine Hand am Geländer, während er die Brücke überquerte, und ging vorsichtig auf der anderen Seite hinunter. Das Pflaster hier war feucht, aber noch lag zu wenig Schnee, um es rutschig zu machen. Als Kind hatte er Geschichten über Arktisforscher gelesen, die sich durch endlose Schneewüsten ihrem Tod entgegenschleppten: den Kopf in den Wind geduckt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und niemals stehen zu bleiben. Auch er setzte jetzt mit letzter Kraft einen Fuß vor den anderen, wollte nur noch ins Warme, an einen Ort, wo er ausruhen und, sei es auch nur für kurze Zeit, dieses unaufhörliche Streben nach einem ewig zurückweichenden Ziel vergessen konnte.
Der Geist von Captain Scott trug ihn die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Der mühsame Marsch dieses Mannes stand ihm so lebhaft vor Augen, dass er, oben angekommen, in Gedanken seine Robbenfellstiefel auszog und den mit Pelz gefütterten Parka auf den Boden fallen ließ. In Wirklichkeit zog er nur seine Schuhe aus und hängte seinen Mantel an einen Haken neben der Tür.
Er horchte in sich hinein: Nein, so müde war er noch nicht. In der Küche nahm er ein Glas aus dem Schrank und entkorkte den Grappa. Er schenkte sich großzügig ein und ging damit ins Wohnzimmer, wo ihn Dunkelheit erwartete. Als er das Licht anknipste, war der an die Scheiben wirbelnde Schnee nicht mehr zu sehen. Er machte es wieder aus.
Er ließ sich auf dem Sofa nieder, legte sich hin, zog die Füße hoch, streckte die Beine aus und klopfte sich zwei Kissen zurecht. Dann nahm er einen Schluck Grappa, und noch einen. Er sah dem Schneetreiben zu und dachte daran, wie müde Guarino auf einmal gewirkt hatte, als er erkennen musste, dass alle für einen Patta arbeiteten.
Seine Mutter hatte in Augenblicken großer Not immer ein paar Heilige in Reserve gehabt, an die sie sich wenden konnte. Der heilige Gennaro zum Beispiel war für den Schutz der Waisen zuständig; der heilige Mauro behütete die Krüppel, und der heilige Egidio half ihm dabei; die heilige Rosalia wurde in Pestzeiten um Schutz angefleht, und seine Mutter meinte, sie könne auch bei Masern, Mumps und Grippe helfen.
Brunetti lag auf dem Sofa, nippte an seinem Grappa, wartete auf Paola und dachte an die heilige Rita di Cascia, die Schutz vor Einsamkeit bot. »Heilige Rita«, betete er, »aiutaci.« Für was aber, fragte er sich, flehte er sie um Hilfe an? Er stellte das leere Glas auf den Tisch und schloss die Augen.
18
E r hörte eine Stimme und stellte sich vor, es sei seine Mutter, die neben ihm betete. Er blieb liegen, glücklich beim Klang ihrer Stimme, auch wenn er wusste, sie war nicht mehr da und er würde sie nie mehr sehen oder hören. Er brauchte die Illusion, die tat ihm gut.
Die Stimme sprach weiter, dann spürte er einen Kuss auf seiner Stirn, wie früher immer, wenn seine Mutter ihn zu Bett gebracht hatte. Aber der Geruch war anders.
»Grappa vor dem Essen?«, fragte sie. »Wirst du jetzt auch anfangen, uns zu schlagen, und in der Gosse enden?«
»Wolltest du nicht essen gehen?«, fragte er zurück.
»Ich bin in letzter Minute abgesprungen«, sagte sie. »Bis zum Restaurant bin ich noch mitgegangen, dann habe ich gesagt, mir sei unwohl - und das stimmte -, und bin nach Hause gekommen.«
Ihre bloße
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