Brunetti 18 - Schöner Schein
körperliche Anwesenheit erfüllte Brunetti mit Wohlbehagen. Er spürte das Gewicht ihres Körpers auf der Sofakante und schlug die Augen auf. »Ich glaube, dein Vater ist einsam und fürchtet sich davor, alt zu sein.«
»In seinem Alter ist das normal«, sagte sie ruhig.
»Aber das sollte nicht sein!«, protestierte er.
Sie lachte laut auf. »Gefühle hören nicht auf ›sollte‹ und ›sollte nicht‹, Guido. Es gibt Jahr für Jahr genug Morde im Affekt, die das beweisen.« Sie bemerkte seine Reaktion und sagte: »Entschuldige. Ich hätte einen besseren Vergleich wählen sollen. Sagen wir: Heiraten im Affekt?«
»Aber du siehst das auch so?«, fragte Brunetti. »Du kennst ihn besser als ich, also solltest du wissen, was er denkt. Oder empfindet.«
»Glaubst du das wirklich?« Sie rutschte ans Sofaende, tätschelte seine Füße und schob sie hinter sich.
»Natürlich. Du bist doch seine Tochter.«
»Meinst du etwa, Chiara versteht dich besser als jeder andere?«
»Das ist was anderes. Sie ist noch ein Teenager.« »Das Alter macht also den Unterschied?« »Hör auf, so zu tun, als seist du Sokrates«, unterbrach er sie. »Habe ich nun recht oder nicht?« »Dass er sich alt und einsam fühlt?« »Ja.«
Paola legte ihm eine Hand aufs Schienbein und schnippte einen Krümel Erde vom Aufschlag seiner Hose. Erst nach einer Weile antwortete sie: »Ja, das denke ich auch.« Sie massierte sein Bein. »Aber falls es dich tröstet, ich hatte, seit ich erwachsen bin, den Eindruck, dass er sich einsam fühlt.«
»Wieso?«
»Weil er intelligent und kultiviert ist und bei seiner Arbeit fast ausschließlich mit Leuten zu tun hat, die das nicht sind. Nein«, sagte sie und schnitt ihm die Widerrede ab, indem sie zweimal sachte auf sein Bein klopfte, »bevor du mir widersprichst, will ich zugeben, dass viele von ihnen intelligent sind, aber auf eine ganz andere Weise. Er denkt in abstrakten Zusammenhängen, und die Leute, mit denen er arbeitet, haben meist nur Gewinn und Verlust im Kopf.«
»Er etwa nicht?«, fragte Brunetti ohne jede Spur von Skepsis.
»Natürlich will er Geld verdienen. Wie gesagt, das liegt bei uns in der Familie. Aber das hat ihm nie große Mühe bereitet. Er will den Dingen auf den Grund gehen, sie in größeren Zusammenhängen sehen.«
»Ein gescheiterter Philosoph?«
Sie sah ihn scharf an. »Spar dir die Bosheiten, Guido. Ich weiß, ich kann das nicht gut ausdrücken. Jetzt, wo er nicht mehr darüber hinwegsehen kann, wie alt er ist, beunruhigt ihn die Vorstellung, dass sein Leben ein Fehlschlag gewesen sein könnte.«
»Aber...« Brunetti wusste gar nicht, mit welchem Einwand von seiner langen Liste er anfangen sollte: eine glückliche Ehe, eine wunderbare Tochter, zwei anständige Enkelkinder, Reichtum, finanzieller Erfolg, gesellschaftliche Stellung. Er wackelte mit den Zehen. »Ich verstehe das wirklich nicht.«
»Respekt. Er will von den Leuten respektiert werden. So einfach ist das, denke ich.« »Aber das tut doch jeder.«
»Du nicht«, gab sie so heftig zurück, dass Brunetti der Gedanke kam, sie habe seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, darauf gewartet, ihm das zu sagen.
Er zog die Füße hinter ihr hervor und richtete sich auf. »Mir ist heute klargeworden, wie gern ich ihn habe«, sagte er.
»Das ist nicht dasselbe«, fauchte sie zurück.
Etwas in Brunetti rastete aus. Er hatte an diesem Tag vor der Leiche eines Mannes gestanden, der jünger war als er und eine Kugel in den Kopf bekommen hatte. Und er vermutete, der Mord an diesem Mann wurde von Männern gedeckt, die ihrem Vater sehr ähnlich waren: reich, mächtig, mit guten Beziehungen zur Politik. Und jetzt wurde von ihm auch noch Respekt verlangt?
Er erwiderte kühl: »Dein Vater hat mir heute erzählt, er wolle in China investieren. Ich habe ihn nicht gefragt, was genau das für eine Investition sein soll, aber im Verlauf unseres Gesprächs erwähnte er so ganz nebenbei, er nehme an, dass die Chinesen Giftmüll nach Tibet schicken und die Bahnstrecke dorthin nur zu diesem Zweck gebaut haben.«
Da er schwieg, fragte Paola schließlich: »Und worauf willst du hinaus?«
»Dass er dort investieren wird; dass ihn das alles überhaupt nicht zu stören scheint.«
Sie starrte ihn an wie einen Fremden. »Und für wen, bitte schön, arbeiten Sie, Commissario Brunetti?«
»Für die Polizia di Stato.« »Und für wen arbeitet die?«
»Für das Innenministerium.«
»Und für wen arbeitet das?«
»Gehen wir jetzt die ganze
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