Brunetti 18 - Schöner Schein
Nahrungskette rauf bis zum Regierungschef?«, fragte Brunetti.
»Da sind wir schon«, antwortete sie.
Beide verharrten in vorwurfsvollem Schweigen, bis Paola verärgert herausplatzte: »Du arbeitest für diese Regierung, und dann wagst du es, meinen Vater zu kritisieren, weil er in China investiert?«
Brunetti holte Luft, um etwas zu sagen, aber in diesem Augenblick stürmten Chiara und Raffi in die Wohnung. Sie machten einen solchen Lärm, dass Paola aufsprang und in den Flur lief, wo die Kinder Schnee von ihren Schuhen trampelten und von ihren Mänteln schüttelten.
»Wie war's beim Horrorfilm-Festival?«, fragte Paola.
»Fürch-ter-lich«, sagte Chiara. »Als Erstes gab es Godzilla, der Film ist bald hundert Jahre alt und hat die bescheuertsten Spezialeffekte, die du dir vorstellen kannst.«
»Haben wir das Abendessen verpasst?«, fragte Raffi dazwischen.
»Nein.« Die Erleichterung war Paola deutlich anzuhören. »Ich wollte gerade etwas machen. Zwanzig Minuten?«
Die Kinder nickten, trampelten noch ein bisschen herum, stellten dann sogar ihre Schuhe draußen vor die Tür und gingen in ihre Zimmer. Paola verzog sich in die Küche.
Zufällig gab es als Vorspeise Kalmarsalat; Brunetti wusste, wie furchtsam diese scheuen Meerestiere waren, und nicht viel anders verhielten sich jetzt am Tisch seine Kinder, die immer wieder nach ihrer schweigsamen Mutter sahen und ihre Miene zu deuten versuchten. Polypen besaßen nur ihre Tentakel, um Gefahren wahrzunehmen, seine Kinder hingegen benutzten die Sprache, um sie abzuwenden. Und so hörte Brunetti schweigend zu, wie sie erst mit geheuchelter Begeisterung darum bettelten, an diesem Abend den Abwasch machen zu dürfen, und dann betont artig auf Paolas unbeteiligte Fragen nach der Schule antworteten.
Nach ihrem Ausbruch blieb Paola während der gesamten Mahlzeit ruhig; nur einmal fragte sie, ob jemand etwas von der Lasagne haben wolle, die sie eigentlich für Brunetti in den Ofen gestellt hatte. Brunetti bemerkte, dass die Vorsicht der Kinder sich sogar auf ihr Essverhalten erstreckte: Beide mussten erst zweimal aufgefordert werden, ehe sie Nachschlag nahmen, und Chiara unterließ es, die nicht gegessenen Erbsen an den Rand ihres Tellers zu schieben, eine Angewohnheit, über die ihre Mutter sich jedes Mal aufregte. Zum Glück sorgten die überbackenen Apfel mit Vanillecreme allgemein für bessere Stimmung, und als Brunetti seinen Kaffee trank, herrschte wieder so etwas wie Frieden.
Er hatte keine Lust auf einen Grappa, sondern ging ins Schlafzimmer, um Ciceros Reden vor Gericht zu holen, ein Buch, das er nach dem ersten Gespräch mit Franca Marinello noch einmal zu lesen begonnen hatte. Er suchte und fand auch seine Ausgabe von Ovids kleineren Schriften, die er seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeschlagen hatte; wenn er mit Cicero fertig war, würde er sich, ebenfalls auf ihre Empfehlung, damit beschäftigen.
Als er ins Wohnzimmer zurückkam, nahm Paola gerade in ihrem Lieblingssessel Platz. Er blieb neben ihr stehen und drehte ihr noch geschlossenes Buch so, dass er den Titel lesen konnte. »Immer noch dem Meister treu?«, fragte er.
»Ich werde Mister James niemals verlassen«, erklärte sie feierlich und schlug das Buch auf. Brunettis Atmung beruhigte sich. Was für ein Glück, dass in ihrer Familie niemand lange schmollte; das Kriegsbeil war begraben.
Er ließ sich auf dem Sofa nieder und streckte sich der Länge nach aus. Nachdem er sich eine Zeitlang in die Verteidigung des Sextus Roscius vertieft hatte, ließ er das Buch auf den Bauch sinken, drehte sich umständlich zu Paola um und sagte: »Ist es nicht seltsam, wie schwer die Römer sich damit taten, Leute ins Gefängnis zu schicken?«
»Auch wenn sie schuldig waren?«
»Besonders wenn sie schuldig waren.«
Sie sah interessiert von ihrem Buch auf. »Was haben sie stattdessen getan?«
»Man sprach sie schuldig, dann ließ man sie laufen. Vor dem Urteilsspruch gab es eine Gnadenfrist, und die meisten nutzten die Gelegenheit und gingen ins Exil.«
»Wie Craxi?« »Genau.«
»Haben andere Länder auch so viele Vorbestrafte in der Regierung wie wir?«
»Bei den Indern soll es eine ganze Reihe geben«, antwortete Brunetti und kehrte zu seiner Lektüre zurück.
Als Paola ihn nach einiger Zeit kichern und dann laut lachen hörte, sagte sie: »Ich gebe ja zu, dass der Meister mich gelegentlich zum Schmunzeln bringt, aber zum Lachen hat er mich noch nie gebracht.«
»Dann hör dir das an«, sagte Brunetti
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