Brut des Teufels
der ein kleines, weißes Plastikschildchen befestigt war, auf dem in schwarzen Buchstaben ein Name stand: Dr. Rupert Keller. » Deine Schwester holt der Teufel, Jack Nightingale.« Der südwestenglische Akzent war verschwunden, und die Stimme hatte dumpf und ausdruckslos geklungen.
» Was haben Sie gesagt?«
Agnes runzelte die Stirn. » Ich hatte gesagt, das hier ist Dr. Kellers Büro«, antwortete sie. Sie klopfte an der Tür und öffnete sie.
Nightingale starrte der weggehenden Wärterin nach und fragte sich, ob er sich wohl verhört hatte.
» Mr Nightingale?« Dr. Keller saß an seinem Schreibtisch und blickte auf einen Computerbildschirm. Er stand auf und streckte die Hand aus. Er war Mitte fünfzig, und sein Teint war so blass, dass die Haut beinahe durchscheinend wirkte. Nightingale sah die bläulichen Adern, die sich auf dem Handrücken des Arztes abzeichneten, und der Händedruck des Mannes war nahezu kraftlos. Er trug einen weißen Kittel über einem Tweedanzug, eine rote Wollkrawatte, und auf seiner Nasenspitze saß eine Brille mit dicken Gläsern. » Ich dachte, es könnte vielleicht hilfreich sein, wenn wir uns ein wenig unterhalten, bevor Sie Ihre Schwester aufsuchen«, sagte der Arzt und forderte Nightingale mit einer Handbewegung auf, sich auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen.
» Danke, dass Sie den Besuch zugelassen haben«, sagte Nightingale und setzte sich. » Ich war mir nicht sicher, ob es leicht sein würde, in eine Hochsicherheitspsychiatrie zu kommen.«
» Wir sehen es gerne, wenn unsere Insassen möglichst mit ihren Familien in Kontakt bleiben«, erklärte Dr. Keller. » Robyn hat keinen Besuch gehabt, seit sie vor zwei Jahren hier eingetroffen ist. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Angesichts der Verbrechen, die unsere Patienten begangen haben, halten Freunde und Verwandte häufig Abstand.« Er blickte wieder auf den Computerbildschirm. » Ich hatte mir gerade Robyns Akte angeschaut. Wie ich sehe, sind Sie erst vor kurzem als naher Verwandter eingetragen worden.«
» Ehrlich gestanden, Dr. Keller, habe ich erst letzte Woche entdeckt, dass wir verwandt sind.«
Der Arzt nickte. » Ja, das sehe ich«, erwiderte er. » Die DNA beweist die Verwandtschaft jedoch eindeutig, und so haben wir kein Problem, Sie als Familienmitglied zu führen, auch wenn das ein wenig unorthodox ist. Sie haben denselben Vater, nicht wahr?«
Nightingale nickte. » Denselben Vater, aber eine andere Mutter. Wir sind beide bei der Geburt adoptiert worden. Ich war natürlich überrascht, als ich herausfand, in was für einer Lage meine Schwester sich befindet.«
Dr. Keller lächelte mit unregelmäßigen Zähnen. » Das kann ich mir vorstellen«, meinte er. » Aber wenn Sie mir die Frage gestatten, warum haben Sie beschlossen, Robyn zu besuchen?«
» Sie ist meine einzige Familienangehörige«, antwortete Nightingale. » Meine Adoptiveltern sind vor Jahren gestorben, und als ich entdeckte, dass ich eine Schwester oder zumindest eine Halbschwester habe, habe ich mir den Kontakt gewünscht. Natürlich wären mir andere Umstände lieber, aber wir müssen die Welt so nehmen, wie sie ist, nicht wahr?«
» Leider ja«, antwortete der Arzt.
» Kann man problemlos mit ihr reden?«, fragte Nightingale.
» Sie ist geistig klar und kann manchmal recht charmant sein.«
» Aber sie ist psychisch krank, oder? Sonst wäre sie doch nicht hier?«
» Das ist eine Frage, die man auf mehreren Ebenen beantworten kann«, gab der Arzt zurück. » Sie ist eine unserer gefügigeren Insassen, aber vor dem Hintergrund der Art ihres Verbrechens wird sie immer mit Vorsicht behandelt.«
» Wie äußert sich das?«
» Sie wird nicht als Gefahr für andere Insassen oder das Personal betrachtet, aber wir sehen bei ihr ein Fluchtrisiko.«
» Hat sie denn jemals versucht zu fliehen?«, fragte Nightingale.
» Man kann sich keine bessere Insassin wünschen– sie ist höflich, rücksichtsvoll und hält sich an die Regeln«, antwortete Dr. Keller. » Aber sie ist eine Soziopathin, und als solche ist sie absolut fähig, ihre Kooperationsbereitschaft nur vorzutäuschen, bis sich ihr eine Gelegenheit bietet, entweder wieder zu morden oder zu fliehen.«
» Aber Sie können es vertreten, dass ich sie besuche?«
» Unbedingt. Ihre Opfer waren alle Kinder, und hier hat sie sich gegenüber anderen Insassen oder dem Personal nie feindselig gezeigt. Ich habe keinen Zweifel, dass es mit ihr keinerlei Probleme gäbe, wenn sie
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