Buch Der Sehnsucht
bereichern zu wollen. Schmutz ist ansteckend, sagt man. Wir werden sehr schnell in den Schmutz hineingezogen, der uns von außen umgibt. Wir lassen uns von den Emotionen der anderen infizieren. Schon im Kleinen und Alltäglichen wird das deutlich. Sobald einer über den Nachbarn oder einen Mitarbeiter schimpft, hängen wir uns mit unseren unklaren Emotionen daran. Und schon vermischt sich die fremde Bitterkeit mit der eigenen. Die Folge: Wir fühlen uns beschmutzt. Oft merken wir erst hinterher, wie schlecht es uns damit geht. Die Emotionen der anderen und die eigenen legen sich wie eine Staubschicht auf uns.
In einer solchen Situation sehnen wir uns nach innerer und äußerer Reinheit. Die frühen Mönche sprachen von der Reinheit des Herzens. Das war ihr Ziel. Sie kannten die Sehnsucht nach einer reinen Liebe, die nicht vermischt ist mit Besitzansprüchen, nach reiner Güte, die nicht berechnet, nach reiner Freundlichkeit, die nicht aufgesetzt ist. Wer ein reines Herz erlangt, der sieht den Menschen so, wie er ist, ohne seine eigenen Schattenseiten auf ihn zu projizieren. Er nimmt die Dinge so wahr, wie sie sind, ohne seine Nebenabsichten in sie zu mischen. „Für die Reinen ist alles rein", heißt es in der Bibel (Titusbrief 1,15). Wir sehnen uns nach dem reinen Herzen, das in jedem Menschen die Sehnsucht nach Reinheit erkennt. Seine Reinheit strahlt aus - und sie macht auch sein Umfeld rein.
FREIHEIT, DIE ZUR FESSEL WIRD
Die Sehnsucht - so der Psychologe und spirituelle Schriftsteller Anthony de Mello - kann zu einer Fessel werden: „Sogar die Sehnsucht nach Freiheit ist eine Fessel. Niemand ist wirklich frei, der sich um seine Freiheit sorgt. Nur die Zufriedenen sind frei." Es geht immer um das rechte Maß. Wenn ich immer nur um meine Sehnsucht nach Freiheit kreise, dann wird die Sehnsucht zu einer Sorge. Und wenn ich mich um meine Freiheit sorge, dann bin ich nicht frei. Frei werde ich nur, wenn ich ja sage zu mir selbst. Wichtig ist, dass ich mich aussöhne mit mir, so wie ich bin. Die echte Sehnsucht führt zur Aussöhnung - auch mit meiner Brüchigkeit und Begrenztheit. Die einengende und fesselnde Sehnsucht dagegen übergeht meine jetzige Realität. Ja sie lehnt sie ab. Sie gibt sich erst zufrieden, wenn die Sehnsucht erfüllt wird. Damit aber nehme ich gar nicht wahr, dass ich jetzt im Augenblick schon alles habe, wenn ich nur ganz eins bin mit mir und mit Gott.
Die Sehnsucht, die die Alten meinten, geht nicht der Erfahrung des Einsseins aus dem Wege, sondern gibt ihr die innere Spannung. Sie hält die Einheit lebendig und bewahrt sie davor, zu einem Einheitsbrei zu werden, in dem alles zerfließt.
III. IM INNERSTEN BERÜHRT
DIE EHRLICHSTE EIGENSCHAFT
„Ich habe in meinem Leben herausgefunden, dass die Sehnsucht die einzig ehrliche Eigenschaft des Menschen ist." Das sagte der Philosoph Ernst Bloch in einem Interview an seinem 90. Geburtstag. Er hat Recht: In allem kann der Mensch lügen. Alle Tugenden können wir zur Schau tragen und dennoch heuc heln. In alles kann sich etwas Unechtes und Falsches einschleichen. Die Liebe kann nicht echt sein. Die Höflichkeit nur anerzogen. Das Helfen kann aus egoistischen Motiven erfolgen. Wir müssen nur einmal unsere eigenen Haltungen ehrlich ansehen: Unsere Gerechtigkeit kann mit Härte vermischt sein, unsere Zuwendung zu einem anderen mit Besitzansprüchen, unsere Hilfe mit Machtinteressen. Nur eines kann man nicht verfälschen: die Sehnsucht. Denn seine Sehnsucht kann der Mensch nicht manipulieren. Der Mensch ist seine Sehnsucht. Sehnsucht ist wirklich die ehrlichste Eigenschaft aller Menschen: Sie ist einfach da. Sie regt sich in unserem Herzen, ob wir wollen oder nicht. Wo ein Mensch sich sehnt, da kommt er mit seinem Herzen in Berührung. Ich kann meine Sehnsucht zwar auf kurzfristige Ziele richten, wie etwa auf den Gewinn im Lotto oder auf den Sieg meiner Fußballmannschaft. Aber auch in solcher Sehnsucht klingt immer die Sehnsucht nach mehr mit, die Sehnsucht nach dem Gelingen des Lebens, die Sehnsucht nach Glück. Für Augustinus ist in jeder Sehnsucht letztlich die Sehnsucht nach dem Vollkommenen, nach dem Absoluten lebendig. Und diese Sehnsucht ist zugleich das ehrliche Eingeständnis, dass ich, so wie ich bin, noch nicht am Ziel bin; dass die Welt, so wie sie ist, noch in Entwicklung ist; dass das Eigentliche noch bevorsteht. Sehnsucht ist nicht nur die ehrlichste Empfindung. Sie kann auch zur Ehrlichkeit gegenüber dem eigenen
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