Buch Der Sehnsucht
Ort des endgültigen Angenommenseins. Der offene Himmel lenkt unseren Blick auf jene uns übersteigende Wirklichkeit, die wir von Kindheit an mit dem Himmel als Ort göttlicher Transzendenz in Verbindung bringen. Die Sterne verweisen uns auf die blaue Blume unserer Sehnsucht. Sie leuchten am dunklen Himmel. Dadurch bekommt der Himmel einen besonderen Glanz. Darin ahnen wir etwas von dem, der unser Leben mit seinem göttlichen Glanz erfüllen wird.
EIN TISCH, DER NIE LEER WIRD
Wir setzen uns an den Tisch, um zu essen und Gemeinschaft zu erleben. Wenn das Essen vorbei ist, wird der Tisch abgeräumt. Manchmal geht das Gespräch noch weiter. Doch irgendwann stehen wir dann auf und gehen an die Arbeit. Der Dichter Novalis spricht vom „Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird". Er vergleicht also die Sehnsucht nicht mit dem Hunger, wie es viele tun, sondern mit der Speise, von der wir essen können. Sehnsucht nährt uns. Sie stärkt uns auf unserem Weg. Und Sehnsucht verbindet, so wie ein Mahl Gemeinschaft stiftet. Wer im Gespräch mit der Sehnsucht des anderen in Berührung kommt, der fühlt sich mit ihm in der Tiefe seines Herzens verbunden. Die Sehnsucht des anderen erinnert ihn an die eigene Sehnsucht. Sie öffnet und weitet sein Herz. Die Gemeinschaft am Tisch der Sehnsucht hat nichts Klammerndes an sich. Sie lässt frei. Sie öffnet den Himmel und schafft einen weiten Horizont. In der Sehnsucht spüre ich den anderen. Da erlebe ich mehr Nähe als durch die Übereinstimmung in der politischen Überzeugung. Sehnsucht bringt mich dem Herzen des anderen näher. Wenn ich die Sehnsucht des anderen spüre, erahne ich etwas vom Geheimnis, das ihn umgibt. Und das Geheimnis schafft Heimat, ein Heim, in dem man miteinander daheim ist. Der Tisch der Sehnsucht wird zum Haus der Sehnsucht, in dem wir wohnen und zu Hause sein dürfen.
SEELENNAHRUNG
„Die Sehnsucht ist es, die unsere Seele nährt, und nicht die Erfüllung." Arthur Schnitzler hat das gesagt. Der österreichische Schriftsteller, ein psychologisch hochsensibler Arzt und scharfsinniger Beobachter der gesellschaftlichen „Seelenlagen", weiß nicht nur, was den Körper nährt. Er kennt auch die seelischen Bedürfnisse der Menschen. Natürlich war dieser Mann der feinen Gesellschaft auch jemand, der festliche Mahlzeiten und ein gutes Leben schätzte. Aber er wusste auch: Das ist keineswegs alles. Gute Speisen sättigen, sie geben dem Körper Kraft und Gesundheit und verschaffen Genuss. Aber die Seele braucht noch etwas anderes. Jesus spricht davon, dass wir nicht nur vom Brot leben, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt (vgl. Matthäusevangelium 4,4). Das heilsame und heilbringende Wort kann die Seele nähren. Sehnsucht hat, so Arthur Schnitzler, eine ähnliche Qualität.
Mit der Seele verbinden wir die Vorstellung von Weite, Freiheit, Lebendigkeit, Geistigkeit. Die Seele will atmen. Die Sehnsucht ist wie der Atem der Seele. Sie greift über die Enge dieser Welt hinaus. Da gelangt sie in ihr Eigenes. Natürlich ist die Erfahrung der Erfüllung für die Seele wichtig. Die Seele braucht Orte, an denen sie genießen kann, an denen sie das Einswerden erfährt mit allem, was ist. Aber die Seele übersteigt diese Erfüllung. Es ist die Sehnsucht, die sie weiterbringt. Denn die Einheit, die sie manchmal erspürt, ist nicht beständig. Sie entschwindet ihr immer wieder. Völlig eins mit Gott wird die Seele erst im Tod werden. Solange sie hier lebt, braucht sie die Sehnsucht, die sie vorantreibt, die sie motiviert, damit sie weiterwandert auf dem inneren Weg. Die Sehnsucht ist wie das Brot, das vom Himmel kommt, um die Seele auf ihrem Weg von den irdischen Niederungen in die Höhe des Himmels zu nähren und zu stärken.
Eine ähnliche Erfahrung, wie sie Arthur Schnitzler beschreibt, hat wohl auch Erich Maria Remarque im Sinn, wenn er sagt: „Erfüllung ist der Feind der Sehnsucht." Wir sehnen uns nach Erfüllung. Aber wenn wir uns erfüllt fühlen, erschlafft die Sehnsucht und mit ihr unsere Seele. Doch wenn wir die Erfüllung nicht festhalten wollen, sondern sie einfach nur genießen, dann weckt sie in uns neue Sehnsucht. Insofern ist die Erfüllung nicht immer der Feind der Sehnsucht. Darauf kommt es an: Wie wir mit der Erfüllung umgehen, ob wir uns zufrieden zurücklehnen, oder ob wir uns von ihr auf neue Fährten weisen lassen.
UNENDLICHE WEITE DES MEERES
Wer ein großes Werk schaffen will, braucht ein gutes Organisationstalent. Aber nicht
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