Buch Der Sehnsucht
Bedeutung in der Mystik erhalten. Mystiker wie Jakob Böhme sind überzeugt davon, dass in allem Geschaffenen die tiefe Sehnsucht lebt, mit dem göttlichen Urgrund eins zu werden. Die Romantik war eine Zeit der Sehnsucht. Doch im letzten Jahrhundert verlor der Begriff Sehnsucht seine tiefere, eige ntliche Bedeutung. Er bekam einen negativen Beigeschmack und ließ Versagen an der Wirklichkeit, Flucht vor der Realität mitschwingen. Fortan mieden die Dichter dieses Wort. Doch Nelly Sachs wagt es, immer wieder von der Sehnsucht zu sprechen. Sie wendet sich an den Engel der Bittenden: „Segne den Sand, lass ihn die Sprache der Sehnsucht verstehn, draus ein Neues wachsen will aus Kinderhand, immer ein Neues!"
Die Sprache der Sehnsucht ist eine Sprache der Verwandlung. Nelly Sachs sieht in allem Geschaffenen die Sehnsucht nach etwas Neuem und Unverfälschtem, nach dem Ursprünglichen. Selbst der Sand soll die Sprache der Sehnsucht verstehen. Denn auch aus dem Sand will Gott etwas Neues schaffen, seine Welt, wie er sie sich vorstellt. Für Nelly Sachs sind ganz alltägliche Gegenstände - Herd und Wiege - „abgefallenes Stückgut der Sehnsucht". Auch in ihnen ist die Sehnsucht nach dem, was eigentlich gemeint ist. Der Herd meint die Sehnsucht nach Wärme, nach Heimat und Gemeinschaft. Die Wiege, in der das Kind gescha ukelt wird, lässt an die Geborgenheit bei der Mutter denken. Damit ist keine rückwärtsgewandte Bewegung oder die Flucht in die Vergangenheit gemeint. Vielmehr erinnert die Wiege an unsere Sehnsucht, hier und jetzt bei Gott geborgen zu sein und einst das in Fülle zu erfahren, was wir in der Kindheit nur unbewusst wahrnehmen konnten: bedingungslos geliebt zu werden, geborgen zu sein und schaukeln zu können in der Leichtigkeit des Seins.
IN DUNKELSTER NACHT
In den Gesprächen über die Sehnsucht kam oft ein Einwand zur Sprache: Ist Sehnsucht nicht schon an sich eher etwas Krankhaftes, etwas Morbides, etwas, das sich dem Tod zuneigt, ein Gefühl, mit dem man vor der Realität fliehen möchte? Das ist sicher ein berechtigter Einwand. Es gibt diese krankhafte Sehnsuc ht nach dem Tod. Weil das Leben nicht bringt, was ich erwarte, sehne ich mich nach dem Tod. Oder weil ich die Wirklichkeit nicht aushalte, wie sie ist, flüchte ich in eine Anderwelt. Aber auch wer - dies romantische Sehnsucht nennt - eine solche Haltung ändert mein Leben nicht. Mein Leben bleibt chaotisch und unklar. Wenn Sehnsucht zur Flucht vor der Realität wird, dann macht sie uns eher krank. Das wichtigste Kriterium für eine gesund machende Sehnsucht ist, dass sie mitten aus der Realität heraus entspringt und dass sie mich befähigt, die Wirklichkeit meines Alltags mit größerer innerer Freiheit und Gelassenheit zu bestehen.
Aber wir müssen der Wirklichkeit ins Auge sehen. Bei den 15- bis 20-Jährigen in Westeuropa ist heute der Selbstmord zur zweiten Todesursache geworden. Erschreckend viele junge Menschen haben den Wunsch zu sterben. Ich denke besonders an die Jugendlichen, die keinen Sinn in ihrem Leben finden und in der Illusion, in der Idealisierung verharren. Dies liegt zum Teil daran, dass die Glückserwartung dieser Altersgruppe besonders groß ist und dass sie es nicht schafft, die Wirklichkeit zu akzeptieren, wie sie ist. Heutzutage neigen wir alle dazu, im Superlativ zu leben: man muss „der Beste" sein, „das Beste" tun. Was tun wir mit diesen suizidgefährdeten Jugendlichen? Wir versuchen diese Menschen, die oftmals nur in ihrem Intellekt leben, dazu zu bringen, das Leben zu schmecken und zu fühlen: atmen, sehen, hören, sich bewegen... Es geht nichts über Gartenarbeit und einen festen Tagesplan! Das ist ein Weg. Und wenn ein Wunsch zu sterben auf einer geistlichen Verzweiflung beruht, müssen wir ihm einen anderen Weg weisen, ihm zeigen, dass Gott Liebe ist und jedem helfen kann. Selbst in der dunkelsten Nacht der Sehnsucht nach dem Tod kann es Licht geben. Natürlich bleibt die Realität einer metaphysischen Nacht, das Mysterium des Bösen. Und natürlich bleibt die Sehnsucht nach Klärung letzter dunkler Fragen, die keine Psychologie klären oder auflösen kann. Die Verletzungen, die Menschen erfahren und einander zufügen, erklären nicht alles: Warum hassen die Menschen einander? Warum gibt es so viel Gewalt und Zerstörung? Warum gibt es Ungerechtigkeit und Elend?... Wir können nur feststellen, dass das Böse da ist und schauen, wie wir damit zurechtkommen. „Corruptio optimi pessima. - Die
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