Buch Der Sehnsucht
allein und keineswegs in erster Linie. Der Fliegerpoet Antoine Saint- Exupéry meint sogar, das Wicht igste sei das, was über das konkrete Werk hinausgeht: „Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer." Das klingt paradox. Wer vom weiten Meer träumt, wer die Sehnsucht nach dieser Weite in sich trägt, dem traut man harte Arbeit nicht zu. Und dennoch steckt in diesem Satz des französischen Dichters eine tiefe Wahrheit. Wer genau zu wissen meint, was ein Schiff ist, der wird eins der vielen Schiffe nachbauen, die schon existieren. Er wird sich einen Bauplan für das Schiff besorgen und diesen genau ausführen. Doch was ein Schiff sein könnte, erahnt nur der, in dem die Sehnsucht nach der Weite des Meeres lebt. Die Sehnsucht zeigt ihm ein Schiff, das ihn dorthin trägt. Nur das Schiff, das die Sehnsucht baut, atmet die Weite des Meeres. Dass der Künstler die Sehnsucht braucht, um schöpferisch tätig zu sein, können wir alle verstehen. Das Kunstwerk geht ja über das Zweckbestimmte hinaus. Der Künstler darf sich seiner Phantasie und Kreativität hingeben. Ein Schiff jedoch dient einem bestimmten Zweck. Es muss funktionstüchtig sein, es muss fahren können und sicher sein in den Gefahren des Meeres. Und doch meint Saint-Exupéry, dass auch die Nutzgegenstände in unserem Alltag die Sehnsucht brauchen.
Viele Erfinder haben zuerst ihrer Sehnsucht gehorcht, als sie ans Werk gingen. Sie wussten, wonach sich die Menschen sehnen. Und schafften dann etwas, dass ihre Sehnsucht, wenn auch nicht erfüllt, so doch zumindest anspricht. Wir brauchen nur einmal die Werbung im Fernsehen zu betrachten: Sie benutzt unsere Sehnsucht. Das Waschmittel wäscht ganz rein, das Parfüm verbreitet einen verführerischen Duft, das Auto lässt Freiheit atmen. Die Industrie gibt vor, unsere Sehnsucht zu erfüllen. Dafür muss sie aber um ihrer eigenen Interessen willen mit der Sehnsucht der Menschen in Berührung kommen. Erst dann kann sie ihre Produkte so formen, dass sie das Herz der Menschen berühren.
AUF NEUE FREIHEIT HIN
„Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann." Das hat Jean-Paul Sartre gesagt, ein Mensch, der immer wieder ganz konkret und politisch oft radikal seine Stimme in der Öffentlichkeit erhob, leidenschaftlich Menschenrechtsverletzungen anprangerte und laut protestierte, wo er Unrecht vermutete. Das tiefste Leid aber ist für den französischen Philosophen und existentialistischen Schriftsteller nicht das Leid der Verletzungen und Enttäuschungen unseres Lebens. Der Mensch ist für ihn von Natur aus ein Leidender, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht zu stillen vermag. Die Unstillbarkeit der Sehnsucht gehört zum Wesen des Menschen. Sie ist gleichsam ein Grundexistential seines Lebens. In allem, worunter wir sonst leiden, an mangelnder Liebe, an Unverständnis, an der Einsamkeit, an der Ablehnung, an der Kränkung und Verletzung durch diejenigen, von denen wir Liebe und Geborgenheit erwarten, drückt sich letztlich unser Grundleiden aus: dass unsere Sehnsucht nach Liebe, nach Gemeinschaft, nach Angenommensein, nach Willkommensein, nach Gesundheit und Kraft nicht erfüllt wird. Die Einsicht Jean-Paul Sartres bedeutet für mich aber auch noch etwas anderes: Jedes Leid erinnert mich daran, dass diese Welt meine Sehnsucht nicht zu stillen vermag. Wenn ich mein eigenes Leid so verstehe, wird es erträglicher. Ich höre auf, mich in Selbstmitleid und selbstbezogene Wehleidigkeit zu vertiefen. Das Leid relativiert sich für mich, es bekommt einen Sinn, wenn ich mich von ihm über diese Welt hinausführen lasse zu Gott, der allein meine Sehnsucht zu stillen vermag. Jedes Leid erinnert mich an meine Sehnsucht. Durch die Sehnsucht wird das Leid verwandelt. Es öffnet mein Leben auf eine neue Freiheit hin.
SPRACHE DER VERWANDLUNG
Bengt Holmqvist, schwedischer Literaturkritiker und engster Freund von Nelly Sachs, überschreibt seine Einführung in das Werk der jüdischen Dichterin und Nobelpreisträgerin mit dem Titel: „Die Sprache der Sehnsucht". Sehnsucht ist für ihn das Schlüsselwort zum Verständnis ihrer Dichtung, ein Begriff, der tatsächlich in vielen ihrer Gedichte auftaucht. Dieses Urwort hat seine wahre
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