Buch Der Sehnsucht
unserem Leben erst seinen wahren Glanz verleiht. Wer von dieser Liebe gekostet hat, der lässt alles Äußere hinter sich, seinen Beruf, seinen Besitz, um sich an den Tisch der Sehnsucht zu setzen. Wer die Gedichte und Romanfragmente des Dichters liest, nimmt an dem Tisch der Sehnsucht Platz, den Novalis für uns deckt, damit wir Anteil haben an seiner Sehnsucht nach einer Liebe, die uns verzaubert und uns in das Reich der unendlichen Liebe führt. Die Sehnsucht nach dieser Liebe klingt in vielen Worten auf, die Novalis uns als Fragmente hinterlassen hat. Da sagt er von den Märchen: „Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist." Die heimatliche Welt, das ist die Welt der Liebe. In jeder menschlichen Liebe leuchtet die göttliche Liebe auf. Und nur wo diese göttliche Liebe in menschlicher Liebe aufscheint, ist Heimat. In den Märchen träumen wir von dieser heimatlichen Welt. Sie ist überall und nirgends. Sie ist dort, wo wir sind. Unser Leben wird zur Heimat, wenn wir Märchen lesen. Aber zugleich ist nirgends unsere Heimat. Wir können sie nicht festhalten. Immer wieder entschwindet sie unseren Händen. Novalis war nicht nur Dichter, sondern auch Philosoph, der sich über viele Themen Gedanken machte. „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh - Trieb, überall zu Hause zu sein", sagt er. Wie die Dichtung ist auch die Philosophie erfüllt von Heimweh nach der Heimat. Novalis nennt sie den Trieb, überall zu Hause zu sein. Wenn ich über die Welt nachdenke, wenn ich im Denken das Eigentliche entdecke, dann bin ich überall zu Hause. Dort, wo mir im Denken das Geheimnis aufgeht, entsteht Heimat. Denn daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt.
LIEBESHUNGRIG
Den Zusammenhang von Liebe und Sehnsucht sieht auch Goethe. Er überschreibt ein Gedicht, aus dem wir seine Beschäftigung mit islamischer Dichtung erkennen können, mit dem Titel „Heilige Sehnsucht":
„Sag es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde."
Goethe spricht von der erotischen Liebe, vom sexuellen Akt des Einswerdens. Doch in der sexuellen Liebe gibt es ein Streben nach Höherem, ein neues Verlangen. Der Mensch, der in der Liebe eins wird mit dem Geliebten, fühlt sich wie ein Schmetterling, der sich nach der unendlichen Weite sehnt und nach dem Licht, mit dem er eins werden möchte. Liebeshungrig stürzt sich dieser in die Flamme, um mit ihr eins zu werden mit dem All.
Der Schmetterling ist schon bei Teresa von Ávila ein Symbol für die mystische Dimension des Menschen, für die Sehnsucht nach dem Einswerden mit Gott. Dieses Einswerden geht nur über das Überwinden des eigenen Ich. Die heilige Sehnsucht, von der Goethe spricht, ist letztlich die Sehnsucht nach Gott. Goethe spricht gerne vom „Empor". Der Mensch hebt seine Augen „empor", zum Himmel, von dem ihm Hilfe kommt. In einem Gespräch erklärt Goethe diesen Blick der Sehnsucht als wesentlich zum Menschen gehörend: „Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf, der sich in unermesslichen Räumen über ihm wölbt, weil er es tief und klar in sich fühlt, dass er ein Bürger jenes geistigen Reiches ist, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen."
Goethe nimmt die Erdverhaftung des Menschen ernst. Doch zugleich sieht er den Menschen mit einer unendlichen Sehnsucht ausgestattet, die ihn dazu treibt, seinen Blick sehnend zum Himmel zu erheben. Der Mensch ist nicht nur Bürger dieser Erde, sondern auch eines jenseitigen Reiches. Und nur wenn er diese beiden Seiten in sich wahrnimmt, vermag er ganz Mensch zu werden. Goethe sieht diese beiden Pole immer zusammen. Wir brauchten heute seinen Blick, der die ganze Gestalt des Menschen sieht. Denn nur wenn wir auf das Ganze des Menschen sehen, auf seine
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