Buch Der Sehnsucht
durch nichts gestört wird, sich zu sehnen und zu suchen, wo er nichts Höheres finden kann als die eigne Sehnsucht." Demnach kommt der Geist nicht dann zur Ruhe, wenn er nichts mehr denkt und nichts mehr will, sondern wenn er sich sehnt. Es ist ein Paradox: Indem sich der Geist sehnt, d. h. sich ausstreckt nach dem, was ihn übersteigt, erfährt er Ruhe. Friedrich von Schlegel spricht von heiliger Ruhe, einer Ruhe, die in das Heilige hineinreicht. Julius findet diese heilige Ruhe nur in der Sehnsucht. Und Lucinde antwortet ihm: „Und ich in dieser schönen Ruhe jene heil'ge Sehnsucht."
WANDERN UND BLEIBEN
„Das ist mein Streit:
Sehnsuchtgeweiht durch alle Tage schweifen. Dann, stark und breit, mit tausend Wurzelstreifen Tief ins Leben greifen. Und durch das Leid weit aus dem Leben reifen, weit aus der Zeit!" Es ist ein ungewohntes Bild, das Rainer Maria Rilke hier vom menschlichen Leben zeichnet: Wir sind dazu bestimmt, unsere Tage sehnsuchtsvoll zu leben, ja wir sind der Sehnsucht geweiht. Die Sehnsucht ist also etwas Heiliges. So wie wir uns Gott weihen, so sind wir der Sehnsucht geweiht. In der Sehnsucht sind wir von Gott berührt. Aber dieses Geweiht sein, dieses Heiligsein durch die Sehnsucht, drängt uns dazu, durch die Tage zu schweifen, uns nirgends festzusetzen, immer weiterzugehen. Das ist der eine Pol unseres Lebens. Der andere Pol besteht darin, Wurzeln in dieser Welt zu schlagen. Wir sollen uns ins Leben einwurzeln, tief in den Boden unseres Lebens eindringen. Doch der Baum, der aus den Wurzeln sprießt, wächst über diese Zeit hinaus. Für Rilke ist es das Leid, das unseren Baum reifen lässt. Dieses zeigt uns, dass wir hier keinen letzten Grund haben. Der Baum unseres Lebens greift über unsere Zeit hinaus ins Ewige hinein. In dieser Spannung müssen wir leben: zwischen der Sehnsucht, die uns immerzu wandern lässt, und dem Drang uns einzuwurzeln. Das Paradox unseres Lebens liegt darin, dass uns die Wurzeln, die wir in dieser Welt schlagen, über diese Welt hinaustragen. So wie der Baum seine Wurzeln tief in die Erde eingräbt, um seine Krone immer höher in den Himmel hinauszustrecken, so verwurzeln auch wir uns tief im Leben, um dem Jenseitigen, dem Göttlichen entgegenzuwachsen. Wandern und Bleiben - beides ist Ausdruck unserer Sehnsucht und unseres Leids in dieser Welt, die unsere Sehnsucht nie zufrieden stellt.
„BEHALT DAS HERZ DES WANDERERS"
Unterwegs zu sein, das ist eines der Urbilder menschlichen Lebens: Wir sind Wanderer, die wandernd sich ständig wandeln. Wir können nicht stehen bleiben. Aber oft möchten wir das Herz des Wanderers ablegen und uns in dieser Welt einrichten. Wir bauen ein Haus und glauben, darin zu Hause zu sein. Aber kein Haus kann uns wirkliche Geborgenheit schenken. Es ist immer nur Heimat auf Zeit. Auch wenn wir immer am gleichen Ort sind, bleiben wir Wanderer. Im frühen Mönchtum gab es Mönche, die ihr Leben lang wanderten. Sie drückten damit aus, dass unser Leben ein ständiges Wandern auf Gott zu ist. Der heilige Benedikt setzte dagegen auf die stabilitas, auf das Bleiben an einem Ort. Aber er nahm den Gedanken der inneren Wanderschaft ernst. Seine Mönche verstanden das Schweigen als Auswandern aus der Welt. Peregrinatio est tacere, sagten sie: „Wandern ist Schweigen." Sie wussten, dass der Mensch innerlich stehen bleibt, wenn er das Herz des Wanderers aufgibt. Auch wenn wir immer am gleichen Ort wohnen, in der gleichen Familie leben, in der gleichen Firma arbeiten, brauchen wir das Herz eines Wanderers, damit wir Mensch bleiben. Schweigen ist eine Möglichkeit, immer wieder auszuwandern aus dem Gerede, das uns umgibt. „Behalt das Herz des Wanderers. Schütze deine Sehnsucht", so lautet ein Rat von Gisela Dreher-Richels. Damit das Herz des Wanderers in uns lebendig bleibt, müssen wir unsere Sehnsucht schützen. Wie soll das gehen? Ist die Sehnsucht nicht wesentlich mit unserem Menschsein gegeben? Warum muss ich sie dann schützen? Offensichtlich meint Gisela Dreher-Richels, dass unsere Sehnsucht gefährdet ist. Wenn wir uns hier zu sehr einrichten, wenn wir uns zu sehr mit dem Vordergründigen beschäftigen, kann sie verschüttet werden. Wie aber können wir die Sehnsucht schützen? Drei Ratschläge gibt Gisela Dreher-Richels: „Lass selbst die Schönheit, wenn sie festhält. Schlaf nicht zu lang in gesicherten Wänden. Niste nur ein als Zugvogel sehnsüchtig nach anderem Land." Alles, was uns festhält, kann die
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