Buch Der Sehnsucht
Bestseller. Er rät den Lesern, ihr Leben zu vereinfachen, die Beziehungen zu entwirren, die Wohnung zu entrümpeln, die Zeit zu entschleunigen und sich selbst in der Einfachheit zu entdecken. Das ist wirklich zu begrüßen, und es kann Menschen auch wirklich entlasten, wenn sie Ballast abwerfen und nach dem Wesentlichen in ihrem Leben suchen. Die grundlegende Sehnsucht nach Einfachheit kann allerdings auch gefährliche Formen annehmen. Weil die Welt immer komplizierter wird und die Antworten auf die schwierigen Fragen unserer Zeit immer vielfältiger, sehnen sich viele Menschen nach einfachen Antworten. Sie laufen Gurus nach, die ihnen einfache Antworten auf ihre Fragen geben und die Welt in ein paar Grundgedanken erklären. Die Sehnsucht nach dieser Einfachheit verführt auch scheinbar gebildete Menschen. Nicht selten verraten sie ihre Vernunft und verkaufen obendrein ihre Grundsätze. Im Dritten Reich hat eine völkische Weltanschauung viele Intellektuelle in die Hände Hitlers getrieben. Auch die marxistische Ideologie hat mit einfachen Welterklärungsmodellen intelligente Menschen in ihren Bann gezogen. Heute führt diese Sehnsucht nach einfacher Weltdeutung viele Menschen in die Fänge der Sekten. Die Struktur dabei ist immer gleich: Das eigene Denken wird aufgegeben. Verantwortung wird an eine andere Instanz delegiert. Freiheit wird in der Selbstaufgabe gesucht. Es ist zwar auch eine Ursehnsucht in uns, in Freiheit zu denken. Aber offensichtlich können viele mit dieser Freiheit nichts anfangen. Sie sehnen sich zurück nach der Einfachheit. Doch die einfachen Antworten verengen unser Denken und rauben uns die Freiheit. Ich habe neulich mit einem jungen Mann gesprochen, der einer christlichen Sekte angehörte. Seine Mutter schickte ihn zu mir, weil sie nicht mehr mit ihm zu Recht kam. Als wir über einige Bibelstellen diskutierten, merkte er natürlich, dass er mit seinen vorgefertigten Deutungen nicht durchkam. Als Theologe kannte ich mich schließlich doch besser in der Bibel aus als er. Als er auf alles allzu einfache Antworten parat hatte, sagte ich ihm: „Du kannst denken, was du willst. Das ist dein gutes Recht. Ich möchte dich auch nicht bekehren. Aber eines kann ich nicht haben: Wenn man nicht mehr denken darf, dann ist das für mich die größte Beeinträchtigung des Menschen. Und das hat sicher nichts mit dem Geist Jesu zu tun. Jesus hat nicht einfach die Gedanken der anderen kopiert, sondern er hat seinen eigenen Verstand eingeschaltet und mit seinen eigenen Augen gesehen." Karl Rahner hat einmal gesagt, Denkfaulheit sei keine Gabe des Heiligen Geistes. Natürlich sehnen wir uns alle nach klaren Aussagen und einfachen Lösungen. Aber die Gefahr bei der Sehnsucht nach einfachen Antworten ist, dass der Mensch sein Denken aufgibt, weil es ihm zu anstrengend wird, die Komplexität der Wirklichkeit denkend auszuhalten. Damit gibt er zugleich seine Freiheit auf. Wer sein Denken einstellt, wird nicht zum Einklang mit sich selbst und mit der Welt kommen. Im Gegenteil: Er steht in Gefahr, zum Einheitsmenschen zu werden, der austauschbar und manipulierbar wird.
LEBEN STATT GELEBT ZU WERDEN
Hinter meiner Sucht die Sehnsucht zu erkennen, Sucht in Sehnsucht zu verwandeln - das ist der erste Schritt, von einer Sucht loszukommen. Dann aber braucht es auch Disziplin. Gerade weil mich meine Sehnsucht lehrt, die Realität anzunehmen, wie sie ist, verlangt sie nach Disziplin. Darin steckt das Wort discipulus, Schüler. Zur Realität meines Lebens gehört es, dass ich mein Leben lang ein Lernender, ein Schüler, bin. Die Sucht verlängert das Verwöhnt werden, das Verbleiben im Mutterschoß. Die Disziplin führt mich in das Leben ein. Sie lehrt mich, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, mir klare Ordnungen zu schaffen. Disziplin meint im Lateinischen die Lehre, den Unterricht, aber auch die Zucht, die Ordnung und die Methode, mit der ich an etwas herangehe. Manche meinen, es komme von discere = lernen. Aber vermutlich ist die Wurzel capere = nehmen. Discipere heißt dann zergliedern, um zu erfassen. Ich nehme etwas in die Hand. Ich gliedere es, ich teile es auf, um es zu verstehen, um zu sehen, was darinnen ist. Disziplin ist nicht etwas Passives, dem ich mich unterwerfe, sondern etwas Aktives. Ich nehme mein Leben in die Hand. Ich schaue es mir an und überlege, wie ich es so gliedern kann, dass ich wirklich lebe, dass ich selbst lebe, anstatt gelebt zu werden.
Weil Disziplin und Ordnung
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