Buch Der Sehnsucht
früher übertrieben wurden, haben wir jahrzehntelang die Disziplin eher vernachlässigt. Wir dachten, ohne Disziplin auskommen zu können. Damit haben wir aber etwas vom alten Lebenswissen preisgegeben: Ein Mönchsspruch lautet: „Wer ohne Methode kämpft, kämpft vergeblich." Um auf dem Weg des Lernens und des Erwachsenwerdens weiterzukommen, braucht man klare Methoden. Der Psychologe John Bradshaw meint: Disziplin ist die Kunst, das Leid des Lebens zu verringern.
Ohne Disziplin leidet der Mensch an sich selbst, an seinem inneren und äußeren Durcheinander. Und Hildegard von Bingen spricht davon, dass uns die Disziplin dazu führen möchte, uns immer und überall freuen zu können. In der Disziplin lernen wir, unser Leben in die Hand zu nehmen, es zu gestalten und zu formen. Die Griechen sprechen von á skesis. Askese ist die Übung, das Training. Der Sportler trainiert, um sein Ziel zu erreichen. Der Philosoph trainiert sich in die innere Freiheit. Die Erkenntnis der eigenen Sehnsucht hinter der Sucht genügt nicht. Sucht ist nicht ohne Askese zu verwandeln. Askese ist nicht einfach Verzicht, sondern ein bewusstes Einüben in die innere Freiheit. Dazu gehört auch der Verzicht. Ohne Verzicht, so sagen die Psychologen, kann das Kind kein starkes Ich entwickeln. Wer seine Bedürfnisse sofort befriedigen muss, wird nie erwachsen.
Ich muss meinen Mangel aushalten. Dann werde ich meine Fähigkeiten entwickeln. Askese gibt mir das Gefühl, nicht einfach Opfer meiner Erziehung zu sein, sondern mein Leben selbst gestalten zu können. Askese stiftet Lust am Leben. Ich habe Lust, mich zu trainieren, meine Fähigkeiten aus mir herauszulocken. Ohne diese Lust am Leben ist die Sucht nicht zu überwinden. Nur wer in der Askese lernt, ein Bedürfnis aufzuschieben, kann wirklich genießen. Askese steigert den Genuss, während Sucht uns daran hindert, wirklich zu genießen.
"BINDE DEINEN KARREN AN EINEN STERN!"
Wer einen Karren fährt, muss gut auf den Weg achten. Sonst stürzt der Karren um. Wir schieben den Karren vor uns her und schauen nach unten, damit wir die Hindernisse sehen, die auf dem Weg liegen. Leonardo da Vinci gibt uns einen anderen Rat: „Binde deinen Karren an einen Stern!" Was bedeutet es, das Alltägliche, das wir tun, an einen Stern zu binden? Dieser große und geniale Künstler der Renaissance ist überzeugt: Wir müssen uns an den Sternen orientieren, nicht am Boden. Sonst - so meint er - werden wir blind. Leonardo selbst hat seinen Karren an einen Stern gebunden. Das hat ihn dazu befähigt, über den engen Horizont seiner Zeit hinauszusehen. Leonardo war nicht nur ein genialer Maler, dessen Gemälde vom Letzten Abendmahl schon zu seiner Zeit als Wunder galt. Er hat auch mit seiner Fähigkeit, die Wirklichkeit neu zu betrachten, geniale Erfindungen gemacht. Auf allen Gebieten hat er geforscht, als Anatom, als Botaniker und Zoologe, als Geologe, Hydrologe und Aerologe, als Optiker und Mechaniker. Der Stern, an den er seinen „Karren" gebunden hat, führte ihn weit über das damals Bekannte und Erkannte hinaus und machte ihn zum Wegbereiter moderner Naturforschung.
Wenn wir wie Leonardo unseren Karren an einen Stern binden, entgehen wir der Gefahr, nur noch in der Banalität und Durchschnittlichkeit unseres Alltags zu leben. Zwar müssen wir den Karren schieben, damit wir unsere Last dorthin bringen, wo wir sie abladen können. Aber wenn wir in unserem alltäglichen Tun nur auf den Boden starren, wird unser Leben dumpf werden. Wir müssen in der Welt mit einem Herzen leben, das über diese Welt hinaus weist. Nur dann können wir es in dieser Welt aushalten. Und nur dann wird uns unsere Arbeit nicht frustrieren. Wer den Karren aus dem Dreck zieht, ist möglicherweise enttäuscht, wenn schon nach kurzer Zeit neue Hindernisse auftauchen. Wer aber seinen Karren an einen Stern bindet, der sieht über die Hindernisse hinweg und bleibt nicht an ihnen haften. Sein Ziel liegt jenseits des Augenscheinlichen und Banalen. Deshalb kann er seinen Karren in Gelassenheit und Freiheit weiterziehen. Weil sein Herz an den Stern gehe ftet ist, verliert es die Dumpfheit des Alltags. Es wird leicht. Es erhebt sich über die täglichen Hindernisse, mit dem gelassenen Wissen um den Stern, der ihm leuchtet und der auf einen anderen Horizont hinweist, auf ein jenseitiges Land. Die Sehnsucht ist keine Flucht vor dem Alltag. Sie ermöglicht es uns, ja zu sagen zur Durchschnittlichkeit und Banalität unseres Lebens.
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