Buch Der Sehnsucht
Weder unser Beruf noch unsere Familie, weder unsere Partnerschaft noch unsere Freundschaften müssen unsere Sehnsucht restlos erfüllen. Sie wecken vielmehr unsere Sehnsucht nach einer Erfüllung, die uns das Leben hier nie zu bieten vermag. Aber weil wir die Erfüllung nicht hier suchen, sind wir nicht enttäuscht, wenn wir der Brüchigkeit in unseren Beziehungen und in unserem Tun begegnen. Wir gehen weiter. Wir genießen, was wir erleben, aber der Weg führt uns durch Erfüllung und Enttäuschung hindurch weiter an den Ort, an dem wir für immer die grenzenlose Fülle genießen werden.
IV. GRÖSSER ALS UNSER HERZ
DER SPRUNG INS WEITE
Vor etwa dreißig Jahren habe ich einmal ein Sensitivity-Training gemacht. Darin kam ich mit meinen eigenen, auch verdrängten Gefühlen - und mit den unerfüllten Bedürfnissen meiner Kindheit in Berührung. Das löste eine Krise bei mir aus. Ich spürte eine tiefe Enttäuschung und hatte das Gefühl, in meinem Leben zu kurz gekommen zu sein. Doch einige Zeit später, als ich im Urlaub einmal allein an einem See saß und auf die Wellen schaute, überkam mich auf einmal ein tiefer Friede. Ich konnte auf einmal einverstanden sein mit all den unerfüllten Bedürfnissen und konnte mir sagen: „Es ist gut, dass du nicht satt geworden bist. Das hält dich wach und lebendig, das hält dich offen auf Gott hin. Vielleicht wärst du sonst verbürgerlicht und hättest halbwegs zufrieden dahingelebt. Aber du hättest deine eigentliche Berufung nie entdeckt." Ich sehe meine Berufung heute darin, die Sehnsucht in meinem Herzen wach zu halten, damit ich auf Gott hin offen bleibe und damit mein Herz auch gegenüber den Menschen weit wird. Und es ist die Sehnsucht, die das Herz weit werden lässt. Auch gegenüber den Menschen. Das weite Herz hat Raum für die anderen. Es verurteilt nicht. Es hat das Leben mit seinen Desillusionierungen und Enttäuschungen erfahren und angenommen. Aber es hat sich dabei nicht zusammengezogen. Es hat die Enttäuschungen als Chance genutzt, den Absprung in eine größere Weite zu finden. Es gibt viele Wege, sich mit den Kränkungen der Lebensgeschichte zu versöhnen. Wenn ich die Wunden meiner Lebensgeschichte als Entfacher meiner Sehnsuc ht verstehe, kann ich mich mit ihnen aussöhnen. Sie bleiben Wunden. Sie werden auch immer wieder wehtun. Aber ich versinke dann nicht in Selbstmitleid, sondern ich sage mir: „Die Wunde schmerzt. Aber im Schmerz komme ich in Berührung mit meiner Sehnsucht nach wirklicher Heilung, nach endgültigem Heilsein und Ganzsein." Dann bin ich frei von dem Druck, meine Verletzungen so aufzuarbeiten, dass sie nicht mehr auftauchen. Sie dürfen sich in mir zu Wort melden. Sie erinnern mich immer wieder an die Sehnsucht, die in mir ist. Und sie bringen mich in Berührung mit meinem Herzen, in dem diese Sehnsucht lebt und das gerade durch die Sehnsucht lebendig ist und weit und voller Liebe. Nur wer sich ehrlich seiner Situation stellt, für den wird auch die Sehnsucht wachsen - als Kraft, der eigenen Enge zu entkommen. Nichts anderes ist Spiritualität. Spiritualität besteht für mich darin, der Spur meiner eigenen Lebendigkeit zu folgen, meiner Sehnsucht zu trauen, ihr auf den Grund zu gehen und mich von ihr in die Weite und in die Freiheit, in die Liebe und in die Lebendigkeit führen zu lassen.
RELIGIÖS HEIMATLOS
Gäste, die zu uns ins Kloster kommen, um mit uns zu leben, erzählen mir oft, dass sie ihre religiöse Heimat verloren haben. Sie fühlen sich in ihrer Pfarrgemeinde nicht zu Hause. Manche sind aus der Kirche ausgetreten, weil sie dort keine Heimat mehr fanden. Ihre Sehnsucht nach einer religiösen Heimat bleibt dennoch bestehen. Sie sehnen sich nach Menschen, die einen spirituellen Weg gehen und sie auf ihrem eigenen Weg unterstützen. Sie sehnen sich nach einer Liturgie, in der sie sich zu Hause fühlen, in der sie sich angesprochen und in ihrem Herzen berührt fühlen, in der sie sein dürfen, wie sie sind, mit ihren Licht- und Schattenseiten. Oft haben sie allerdings die gegenteilige Erfahrung machen müssen: Sie fühlten sich beurteilt. Der moralisierende Ton der Predigt gab ihnen das Gefühl, dass sie so, wie sie sind, nicht gut sind. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie erst dann in ihrer Kirche willkommen sind, wenn sie ihr Verhalten geändert haben. Ihre Sehnsucht nach einer religiösen Heimat richtet sich deshalb auf einen spirituellen Raum, in dem sie mit ihrer eigenen spirituellen Sehnsucht
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