Buch Der Sehnsucht
in Berührung kommen, in dem sie sich mit ihrem Glauben und ihrem Zweifel ernst genommen fühlen, in dem sie sich mit ihrem Suchen und Ringen angenommen wissen.
In vielen Menschen erlebe ich diese Sehnsucht nach religiöser Heimat. Es ist keine Sehnsucht nach dem Kinderglauben oder nach der heilen religiösen Welt der Kindheit. Es ist vielmehr eine Sehnsucht, die nach vorne schaut, die Sehnsucht danach, dass das Herz weit wird, offen für Gott, offen für das Geheimnis. Und es ist die Sehnsucht danach, dass ihr Herz berührt wird von Gott, dass die innere Ahnung des Herzens angesprochen wird in der Art und Weise, wie Liturgie gefeiert und wie von Gott und vom Menschen geredet wird. Es tut mir oft weh, dass für viele Menschen die Kirche nicht mehr die religiöse Heimat ist. Und ich sehe es als meine Aufgabe an, durch Vorträge und in Büchern den Menschen einen Raum offen zu halten, in dem sie sich zu Hause fühlen, in dem sie das Geheimnis entdecken, das sie „daheim" sein lässt.
EIN WEG ZUM WEITEN HERZEN
Viele Menschen haben heute ein tiefes Verlangen nach einer gesunden Spiritualität. Nach einer Spiritualität, die nicht pessimistisch oder drohend - moralisierend ist. Nach einer menschenfreundlichen und optimistischen Haltung, die den Menschen wirklich dort abholt, wo er steht. Konkret heißt das: Viele Menschen erleben sich heute innerlich zerrissen. Viele können mit ihren inneren Ängsten und depressiven Stimmungen schlecht umgehen. Sie suchen nach einer Kraft, die sie weiterführt. Nach einem Glauben, der sie stützt und weiterträgt, in einen Raum, in dem ihre Ängste und Unsicherheiten keine Macht mehr haben. Was sie am allerwenigsten brauchen können, sind bedrohliche Verurteilungen. Ich erlebe immer wieder: Viele Menschen verurteilen sich selbst. Sie meinen, sie müssten eigentlich viel reifer oder je nach Sprachgebrauch: viel frommer sein. Diese Menschen brauchen nicht den moralisierenden Zeigefinger. Sie brauchen Wohlwollen. Sie brauchen Erfahrungen und Orte, die ihnen deutlich machen: Das tut mir gut. Das tut meiner Seele und meinem Herzen gut. Hier finde ich Nahrung für meine tiefsten und echtesten Wünsche. Auf diesem Weg kann ich weitergehen. Er führt ins Freie. Spiritualität führt immer in die Weite und Freiheit. Angst und Enge, autoritäres Pochen auf Glaubenswahrheiten und unklare Machtausübung sind immer Zeichen mangelnder Spiritualität. Spiritualität ist Erfahrung. Sie will uns zur Erfahrung einer inneren Freiheit führen, zur Erfahrung, dass wir zwar in dieser Welt, aber nicht von ihr sind, dass niemand Macht über uns hat, weil wir einen göttlichen Kern haben. Das ist Mystagogie: den Menschen, der sich heute nach spiritueller Erfahrung sehnt, in die Erfahrung des unaussprechlichen Gottes einzuweisen und ihm so zu seiner wahren Würde zu verhelfen. Denn der Mensch wird erst Mensch, wenn göttliches Leben in ihm strömt. Die Begegnung mit diesem Geheimnis führt zum Geheimnis des eigenen Lebens. Dabei ist es wichtig, dass Menschen zunächst erfahren: Es darf so sein, wie es ist. Und dass sie dann den Mut spüren weiterzufragen: Wie gehe ich mit meinen Schwächen um? Wie kann ich mich letztlich mit me iner Lebensgeschichte aussöhnen? Spirituelle Begleitung ist wichtig. Sie führt auf einen Weg, auf dem ich beides erfahre: Hier komme ich zu mir selbst und über mich hinaus. Es ist ein Weg der Freiheit und der Lebendigkeit. Benedikt von Nursia hat gesagt: „Der spirituelle Weg führt zum weiten Herzen." Nicht das enge, das weite Herz ist ein Zeichen echter Spiritualität.
WEIT - AUCH IN DER ENGE
Eine alte Geschichte erzählt von einem Mönch, der plötzlich von der Sehnsucht nach der weiten Welt gepackt wird. Er bittet für drei Monate um Urlaub, um in die große Stadt zu gehen. Er will den engen Mauern seines Klosters entfliehen, der Enge seiner Brüdergemeinschaft, in der immer nur die gleichen Probleme verhandelt werden. Drei Monate möchte er sehen, was in der Welt geschieht. Seine Brüder bestürmen ihn nach seiner Rückkehr voll Neugier: „Was hast du gesehen?" Sie hatten offensichtlich die gleiche Sehnsucht wie ihr Bruder, der es wagte, das Reglement der klösterlichen Ordnung zu durchbrechen. Sie möchten teilhaben an dem, was er erlebt hat. Sie möchten im Zuhören etwas von der Weite der Welt spüren. Die Antwort des Bruders lautet: „Ich habe vieles gesehen. Vieles, was ich nicht brauche." Der Mönch, der sich seinen Wunsch nach dem Ausbrechen aus der
Weitere Kostenlose Bücher