Buch Der Sehnsucht
lautet ein kurzes Gebet, das wir von ihm kennen.
In belehrter Unwissenheit (docta ignorantia) suchte dieser große Geist nach dem, der alle unsere Vorstellungen übersteigt, nach dem absolut Größten, in dem alle Gegensätze in eins fallen (coincidentia oppositorum). Die Sehnsucht trieb ihn an, mit diesem unbegreiflichen und unendlichen Gott eins zu werden, alles Wissen hinter sich zu lassen, um „im Dunkel der Unwissenheit" über sich selbst hinauszugehen und die Einung mit dem verborgenen und unbekannten Gott zu erlangen. Erst dann - so glaubt Nikolaus - wird er ganz er selbst sein. In der Einheit mit Gott wird er die Einheit mit seiner eigenen Gegensätzlichkeit erfahren. So spricht der verborgene Gott, der sich mit ihm vereinigt, die Worte: „Sei du dein, dann werde ich dein sein." Das Vertrauen in seine Sehnsucht hat den frommem Kardinal Nikolaus von Kues auch eine neue Weitsicht gegenüber der Welt und ihrer vielfältigen Wirklichkeit eröffnet. Das gilt auch für andere Religionen und Kulturen.
Er überschritt die Grenzen seiner Herkunft und der eigenen Zeit, indem er den Koran studierte und nach Gemeinsamkeiten mit der Bibel suchte. Damit erschloss er völlig neue Horizonte für den Dialog, die bis heute fruchtbar sind. In einer politisch sehr unruhigen Zeit, als die Türken dabei waren, Konstantinopel zu erobern und nach Europa vorzudringen, suchte er nicht nach dem Trennenden, Feindlichen, sondern nach dem im Unterschied Verbindenden. Diese Offenheit und Weite gilt auch für seine Wahrnehmung der Natur. Nikolaus von Kues brachte das überlieferte Wissen in Verbindung mit neuen mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und eigenen astronomischen Beobachtungen. Er überwand das enge geozentrische Weltbild und verkündete als erster im Abendland, dass die Erde keine Scheibe ist, dass sie nicht der ruhende Mittelpunkt des Alls ist, sondern sich um die Sonne dreht. Kopernikus, Kepler und Giordano Bruno haben seine Lehre von der Grenzenlosigkeit der Welt übernommen. Nikolaus von Kues zeigt uns: Die Sehnsucht ist nicht weltfremd. Sie weitet das Herz und öffnet es auf eine größere Wirklichkeit, auf den unendlichen Gott hin. Aber sie weitet auch den Verstand, dass er sich über die engen Sichtweisen hinwegsetzt, Verschiedenheit und Einheit versöhnt und die Größe des Einen Gottes erkennt, die sich in der Vielfalt der Schöpfung ausdrückt. Im Denken und Handeln dieses Gläubigen, Gelehrten und Visionärs wird etwas deutlich, was auch wir immer wieder lernen können: Wir müssen uns nicht abfinden mit der Welt, so wie sie ist. Unsere Sehnsucht kann uns dazu anleiten, Herausforderungen produktiv anzugehen, Türen zu öffnen, Grenzen zu überschreiten und in eine größere Weite zu gelangen.
DAS UNBEGREIFLICHE
Karl Rahner, ein Theologe, der mich auch persönlich stark beeindruckt hat, versteht den Menschen als einen, der auf Gott verwiesen ist. „Der Mensch ist in seinem tiefsten Wesen Sehnsucht und Bedürftigkeit", sagt er. In jedem Erkennen, so Rahner, greift der Mensch über das Vorhandene hinaus in den weiten Horizont Gottes. In jeder menschlichen Begegnung erahnt er etwas von dem, der das eigentliche Du des Menschen ist, in dem der Mensch zu sich selbst findet. Der Mensch kann nach Karl Rahner nicht ohne Gott gedacht werden. Denn in all seinen Daseinsvollzügen, im Vollzug seiner Freiheit, seiner Liebe, seiner Erkenntnis, seines Todes übersteigt er sich selbst in seine geheimnisvolle Wirklichkeit hinein. So ist für diesen Theologen der Mensch in seinem tiefsten Wesen Sehnsucht und Bedürftigkeit. Er braucht Gott, um ganz Mensch zu werden. Und er ist voller Sehnsucht nach dem, ohne den er sein Menschsein nicht verstehen kann. Karl Rahner war erfüllt von der Sehnsucht nach dem unbegreiflichen Gott. Der Theologe Rahner hat an der Enge kirchlichen Denkens immer wieder gelitten. Er hat aber auch an sich selbst gelitten, weil er bei allem Bemühen um eine verständliche Theologie doch immer wieder daran scheiterte, das unbegreifliche Geheimnis so in Sprache umzusetzen, dass es die Menschen verstanden.
Ich habe vor dreißig Jahren meine Doktorarbeit über Karl Rahners Dogmatik geschrieben und alle Schriften gelesen, die er bis dahin verfasst hat. Einmal habe ich ihn besucht und einen ganzen Nachmittag mit ihm über seine Theologie diskutiert. Ich war berührt von der Einfachheit und Ehrlichkeit dieses großen Gottsuchers. Und ich spürte, dass seine Theologie mehr war als das
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