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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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überliefert haben, tiefe Blicke, selten bloß lächelnd. Von den Blicken meiner Toten weiß ich, insoweit Zeugnisse auf mich gekommen sind, dass sie den Tod der Körper überlebten, viele von ihnen starben mit großen und geöffneten Augen. Und die Fotos von den ausgemergelten Toten mit gähnendem Blick sind umso verstörender, als sie, vor Hunger, Erschöpfung oder Krankheiten dahinsiechend und immer weniger werdend, ihre Augen ganz behielten, in den eingefallenen Gesichtern wirkten sie übergroß und gierig.
    Solomon Tehlirian und Arșavir Șiraghian und Aram Yerganian und Stepan Dzaghighian müssen jedes Mal, wenn sie mit weißen Fingergelenken ob des Drucks, mit dem sie ihre Mauser-Revolver umklammerten, einen geradezu irren Blick gehabt haben, mit dem sie die Aufmerksamkeit des Verfolgten erregten. Genauso muss es bei Misak Torlakian gewesen sein, als er näher trat und die Pistole auf Bahbud Khan richtete, um ihm gleich danach zwei Kugeln in die Brust zu jagen.
    Auf dem breiten Bürgersteig vor dem Hotel »Pera Palace« befanden sich, angelockt von der lauen Brise des Bosporus, viele Passanten. Als sie die Schüsse hörten, taten sie das, was ihnen in der Hast am ehesten geboten schien, um mit dem Leben davonzukommen. Die einen warfen sich flach auf das Straßenpflaster, andere gingen hinter den Bäumen im Park in Deckung oder hinter den geparkten Autos. Die Panik nutzend, rannte Misak Torlakian davon, unbehindert bog er am Ende des Gebäudes ab und verlor sich in den Gassen hinter dem Palast.
    Nur wir verfolgen ihn. Alle anderen, beschämt möglicherweise wegen des Schreckens, der sie gepackt hatte, erheben sich, kommen hinter ihren Verstecken hervor und nähern sich dem Niedergeschossenen, von dem wir nicht wissen, ob er nur verletzt oder schon tot ist. Misak Torlakian rennt und hält immer noch den Revolver fest umklammert, bis er sich im Dunkel der Gassen geborgen fühlt. Er bleibt stehen, um durchzuatmen, drückt sich flach an die Wand und schließt die Augen. In diesem Augenblick erinnerte er sich seines Traumes. Es sah aus, als rannte er barfuß über ein Feld, das ebenjenes am Fuße des Berges war. Er sieht sein Dorf und den Rauch, der darüber aufsteigt, aber um dorthin zu gelangen, müsste Misak Torlakian die Richtung ändern, denn das Dorf befindet sich immerzu auf der entgegengesetzten Seite, obwohl schwer zu sagen ist, wo, denn er sieht es rauchen, wenn er den Blick nach links wendet, und er sieht es ebenso rauchen, wenn er nach rechts schaut. Aber er kann nicht von seinem Weg abweichen und sich dem Dorf nähern, um seinen Eltern beizustehen, den Brüdern und Schwestern, denn er hört immerzu, dass sich ein Pferd im Galopp nähert. Es ist der weiße Hengst des Bahbud Khan Djivanșir, der bedrohlich größer und größer wird. Er jagt auf ihn zu, und dennoch, es ist, als wollte er ihn nicht einholen, er hetzt ihn bloß unaufhörlich. Der Aseri ist verletzt, seine Kleider sind blutgetränkt, aber statt dass ihn dies schwächte, macht es ihn nur noch wütender. Misak hält die Pistole in der Hand und dreht sich im Lauf um, damit er noch einmal schießen kann. Aber seine Pistole verwandelt sich in eine Peitsche, und er kann damit keinen Schuss abgeben. Er stolpert und fällt, rappelt sich auf und rennt weiter, sein Herz dröhnt im Galopp-Rhythmus des weißen, mit dem Blut Bahbud Khans verschmierten Hengstes.
    Im Augenblick, da Misak die Augen aufschlug, verstand er die Ungeheuerlichkeit des Traumes. Ich habe ihn nicht umgebracht, schrie etwas in ihm. Er sieht, dass er den Revolver in der Hand hält, und die Tatsache, dass er ihn bei seiner Flucht nicht weggeworfen hat, nimmt er als ein weiteres Zeichen. Zur Hälfte noch im Traum versunken, zur anderen Hälfte von dieser Erkenntnis erschüttert, beschließt er in diesem Augenblick, dass die einzige Möglichkeit, sich aus dem Traum zu befreien, darin besteht, zurückzukehren auf die Esplanade des Hotels »Pera Palace« und Bahbud Khan Djivanșir zu suchen. Von nun an ist er offenbar wieder in seinen Traum eingestiegen, denn seine Unbesonnenheit wies keinen Hauch von Vernunft mehr auf. Misak Torlakian rannte zurück. Die Menge meinte, er sei einer derjenigen, die sich eiligst an den Ort begeben, an dem der Aseri niedergesunken war – auch dann noch, als er die um den am Boden Liegenden Versammelten beiseitestieß. Misak Torlakian feuerte einmal in die Luft, und die Leute stoben überrascht und erschrocken auseinander. Somit stand Misak dem Liegenden von

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